Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Freital.
Ihr Manfred Baron von Freital
PS: Ingeborg wird ebenfalls zugegen sein. Wie ich verstanden habe, freut sie sich sehr, Sie wiederzusehen.
Lauritz saß eine Weile da, wog den Brief des Barons in der Hand und wippte auf seinem Stuhl, bis er schließlich hintenüberfiel. Damit war die Sache entschieden. Zuallererst musste er schlafen. Es war ihm nicht mehr möglich, seine Gedanken zu sammeln. Warum hatte der Baron dieses Postskript an seinen im Übrigen so formellen Brief angefügt?
Er wollte jeden von ihnen als Lockvogel nutzen, so viel war klar. Aber genauso wenig wie Ingeborg verstand Lauritz den Grund dafür. Hatte sich der Baron etwa erweichen lassen und brachte er plötzlich ein romantisches Verständnis für die unwiderstehliche junge Liebe auf, der selbst die Götter angeblich nichts entgegenzusetzen hatten? Nein, unmöglich. Nicht dieser Mann.
Im Untergeschoss des Ingenieurshauses in Hallingskeid sangen seine Kollegen immer noch das Loblied des freien Norwegen, eher laut als gut. Offenbar hatten sie auch noch eine dritte Flasche geöffnet.
Er musste schlafen, berauscht vom Alkohol, aber mehr noch von den dramatischen Vorfällen des Tages. Dies war der wichtigste Tag seines Lebens, aber schlafen musste er.
Am nächsten Morgen hatte er sowohl ein Telegramm zu verschicken als auch Briefe zu schreiben und ein Telefongespräch zu führen, ehe er sich zur Brückenbaustelle begab.
Am Tag darauf traf er erst spät bei der Arbeiterbaracke nahe der Brückenbaustelle ein. Er hatte erwartet, dass es dort still sein würde, weil sich alle Arbeiter auf dem Gerüst befanden oder mit dem Transport von Steinen beschäftigt waren, aber es fand eine erregte politische Versammlung statt. Die Männer bildeten einen Kreis um Johan Svenske, der auf ein Fass geklettert war und dort einem Agitator gleich eine Rede hielt. Immer wieder unterstrich er seine Worte mit erhobener Klassenkämpferfaust, eine Geste, die bei Lauritz ein Gefühl des Unbehagens hervorrief. Immerhin stellte er in Ermangelung anwesender Kapitalisten den Klassenfeind dar.
Die Arbeiterdemonstrationen und Agitationsreden am 1. Mai fanden jetzt immer vor dem Ingenieurshaus in Finse statt. Die Ingenieure wussten nie so recht, wie sie sich verhalten sollten. Sie konnten schließlich nicht vors Haus treten und den Klassenkämpfern ermunternd zuwinken. Aber sich drinnen zu verstecken, bis alles vorüber war, kam ihnen ebenfalls unangebracht vor. Lauritz war sich höchst unsicher, ob er Johans Erklärung glauben sollte, Ingenieure seien die einzigen Personen, die dem Bürgertum und der Obrigkeit in Finse noch am ehesten entsprachen. Deswegen sei die Demonstration eher als symbolischer Akt und nicht so sehr als ernst gemeinter Klassenkampf aufzufassen.
Aber der Stimmung vor der Baracke nach zu urteilen, befand er sich auf direktem Weg in den Klassenkampf. An Weglaufen und Verstecken war nicht zu denken, die anderen
hatten ihn bereits gesehen. Er schluckte und näherte sich energischen Schrittes der Versammlung.
»Gut, dass du kommst, Lauritz!«, rief Johan. »Kameraden! Ich überlasse das Wort sofort dem Kameraden Ingenieur Lauritzen, damit er uns über die jüngsten Ereignisse in Kenntnis setzen kann.«
Es wurde still, und alle drehten sich erwartungsvoll zu Lauritz um, der nicht die geringste Ahnung hatte, was er sagen sollte, und noch viel weniger, was von ihm erwartet wurde. Hoffentlich keine Agitationsrede. Es ging doch wohl nur darum, über die Lage zu informieren?
Johan sprang von dem Fass, und starke Arme hoben Lauritz auf die improvisierte Rednertribüne.
»Kameraden Arbeiter«, begann er zögernd. »Wie ihr bereits zu wissen scheint, hat das Storting gestern erklärt, dass wir die Union mit Schweden verlassen …«
»Das wissen wir! Aber was passiert mit all unseren schwedischen Kameraden hier oben?«, rief jemand.
Darüber konnte er problemloser sprechen. Er erzählte von der Mitteilung, die sie gestern erhalten hatten, dass die bereits bei der Bergenbahn beschäftigten Schweden ihre Arbeit behielten, jedoch keine weiteren Schweden eingestellt werden würden. Am Morgen war dann eine neue Mitteilung eingegangen, dass alle Schweden, die in ihre Heimat zurückkehren wollten, um sich dort einberufen zu lassen, dies tun konnten und keinesfalls Schikanen ausgesetzt werden würden.
Auf diesen Bescheid hin wurde höhnisch gelacht.
In Johans verstärktem Arbeitertrupp gab es neun Schweden, von denen keiner die Absicht hatte, nach Hause
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