Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
zu öffnen. Der Brief war wie ein lauter Ruf aus einem anderen Leben, einer anderen Zeit und einem vollkommen anderen Land. Er zog sein Jagdmesser hervor und öffnete den Umschlag.
Der Brief war sechs Wochen zuvor datiert.
Finse, den 7. August 1905
Teurer, schmerzlich vermisster und lieber Bruder, ich schreibe diese Zeilen unter Qualen, zurückgekehrt auf meinen Posten nach einem äußerst angenehmen, aber zugleich äußerst schmerzlichen Besuch der Regatten der Kieler Woche. Du hast sicher schon einmal von dieser Veranstaltung gehört. Ich hatte die teilweise zweifelhafte Ehre, als Mitsegler auf der Jacht des Barons von Freital mitsegeln zu dürfen.
Die Wettkämpfe verliefen den Umständen nach gut, wir errangen ehrenvolle Platzierungen, d. h. nach den ersten fünf Plätzen, die offensichtlich der Familie des Kaisers vorbehalten sind.
Während meines Aufenthalts in Kiel stieß ich auf einen langen Artikel im Hamburger Abendblatt . Dein Bild auf der ersten Seite vor dem Hintergrund gefangen genommener Neger. Ein paar Seiten weiter fand sich ein zweites Foto von Dir und ein Bericht über Deine Erfolge als Löwenjäger. Demzufolge weiß ich endlich, wo Du bist und was Du tust. So sind wir also beide Eisenbahn-und Brückenbauer geworden.
Ich bin nach unserem Dresdner Examen nach Norwegen zurückgekehrt, um an dem größten Bauprojekt unserer jungen, selbstständigen Nation mitzuwirken. Du weißt natürlich, wovon ich spreche, von der großartigen Eisenbahnstrecke zwischen Kristiania und Bergen, die eine einzigartige Bedeutung erlangen wird, weil sie die Verbindung zwischen Sankt Petersburg und England schaffen wird.
Es ist eine harte, mühevolle, entbehrungsreiche Arbeit, aber ich will Dich nicht mit Details langweilen. Kurz gesagt: endlose Schneestürme, Eis und Dunkelheit.
Dem Artikel im Hamburger Abendblatt entnehme ich, dass Deine Bahnstrecke ebenfalls nicht unkompliziert ist, obwohl die Schwierigkeiten genau entgegengesetzten geologischen und meteorologischen Gegebenheiten geschuldet zu sein scheinen. Wir werden viel zu erzählen haben, wenn uns das Schicksal wieder zusammenführt.
Die Einladung auf die Jacht des Barons hat mein Herz mit gewissen Hoffnungen erfüllt, da Ingeborg und ich einander geschworen haben, niemals jemand anders zu heiraten. Ich hatte so darauf gehofft, dass sich der hartherzige Sachse endlich erweichen lassen würde. Aber nein! Ihn interessierte bloß, ob ich endlich ein Vermögen angespart hätte. Als ich ihn davon unterrichtete, dass meine Arbeit beim entbehrungsreichsten Bahnbau der Welt wenig einträglich und eine Frage der Ehre, der Pflicht und der nationalen Gesinnung sei, war er nicht weiter beeindruckt.
Die Dinge wurden auch dadurch nicht besser, dass ich mich in meiner Verzweiflung so weit erniedrigte, Geld von ihm leihen zu wollen. Ich hielt mich für besonders listig, ihn während des Abschlussumtrunks – der Baron hatte mit seiner Jacht einen besseren Platz belegt als je zuvor (was an meinen Ratschlägen lag, da der Mann nicht kreuzen kann und selbst bei normalem achterlichen Wind überfordert ist) – um einen Kredit von 2500 Reichsmark zu bitten.
Dazu die Vorgeschichte: Das renommierte Ingenieurbauunternehmen Horneman & Haugen aus Bergen hat mir eine Anstellung sowie die Teilhaberschaft nach Ende des Eisenbahnprojekts angeboten. Ich kann zwanzig Prozent der Aktien für die, wie ich annehme, fast symbolische Summe von 15 000 norwegischen Kronen, also für etwa 2500 Reichsmark erwerben.
Ich bin mir sicher, dass bereits eine geringfügige Modernisierung der Firma die Gewinne sofort verbessern würde. Aber aus dieser Teilhaberschaft, die unsere Heirat ermöglicht hätte, wurde also nichts.
Unter anderem, weil Bergens Privatbank mir diesen Kredit verweigerte. Dahinter steckte übrigens auch der Baron, der im Auftrag des Kaisers gewisse Geschäfte zwischen Norwegen und Deutschland betreut.
Entschuldige, lieber Oscar! Ich will Dich wirklich nicht mit trivialen Ausführungen über meine finanzielle Lage ermüden. Doch wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, und im Grunde geht es dabei einzig und allein um Ingeborg.
Ich leiste hier oben in den Bergen die Arbeit von drei Männern, und ich gebe zu, dass es Momente gab, in denen ich darüber recht verbittert war. Die Stadt Bergen hat uns dreien unsere Ausbildung finanziert, aber nur ich zahle die Schuld zurück. Was Sverre betrifft, so will ich seinen Namen nicht mehr hören, auch wenn ich ihn eben selbst
Weitere Kostenlose Bücher