Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
erwartete, betrachtet werden konnte. Freudig hatten sie das Geld entgegengenommen. Das Mindeste, was man von ihnen verlangen konnte, wenn sie sich ihrer Pflicht entzogen, war, dieses Geld zurückzuzahlen.
Die Gründe, die dafürsprachen, eines der vielen unglaublichen Angebote anzunehmen, die ihm der Baron vorgelegt hatte, drei davon sogar in Dresden, waren rein privater und egoistischer Natur.
Er liebte Ingeborg, er zögerte nicht, dieses große Wort zu verwenden, und seine Liebe wurde erwidert. Ihr gemeinsames Leben, ihr für alle Ewigkeit geschlossener Bund, konnte sofort beginnen.
Würden Oscar und Sverre überhaupt begreifen, was diese Liebe für ihn bedeutete? Oder noch schlimmer, würden sie respektieren, dass er in vollem Ernst erwog, sich für etwas, was sie nur schwerlich nachvollziehen konnten, seiner Pflicht zu entziehen und sie beide im Stich zu lassen?
Sie hatten nie über Liebe gesprochen, höchstens im Scherz oder ironisch aus Anlass eines Bordellbesuchs bei irgendeiner festlichen Gelegenheit. Wie sollte er Oscar und Sverre verständlich machen, dass seine Liebe zu Ingeborg so stark war, dass daneben alles andere verblasste, vor allen Dingen Ehre und Pflicht?
Er musste damit rechnen, dass die Diskussion damit endete, dass er seine Brüder auf Knien anflehte, ihm seinen
Verrat zu verzeihen, wenn sie sich selbst in die eisigen Höhen begaben und er sich seinem privaten Glück zuwandte in einem Land, in dem verglichen mit der Hardangervidda Milch und Honig flossen.
Er konnte dies nicht ohne ihre Zustimmung tun. Zu diesem Schluss war er schließlich gelangt. Er musste sie um Erlaubnis bitten, darum bitten, dass zwei Brüder die Pflichten des dritten übernahmen.
Es war, als würde er eine Münze werfen, er hatte nicht die geringste Ahnung, was sie zu seinem Ansinnen sagen würden. Schließlich hatten sie die große Liebe noch nicht erlebt.
Er eilte durch das Gedränge am Hauptbahnhof, abgelenkt, unaufmerksam, und registrierte nicht wirklich, dass er Oscar auf dem Bahnsteig zu sehen glaubte, von dem die Züge nach Berlin abfuhren.
Er legte die Strecke zur König-Johann-Straße zu Fuß zurück, um noch einmal über alles nachzudenken. Vielleicht war es ja übertrieben, aber entscheidende Gespräche konnte man nicht genau genug planen, wie sich gezeigt hatte, als ihm beim Baron die richtigen Worte nicht eingefallen waren.
Es war halb fünf Uhr nachmittags, als er durch das Tor der großen Villa trat, in der seine Brüder und er die letzten fünf Jahre einen eigenen Flügel bewohnt hatten. Schlafzimmer, Küche und Esszimmer im Untergeschoss, ein riesiges Atelier im Obergeschoss, in dem ihre Zeichentische und ihre Modelleisenbahn standen, eine 25 Quadratmeter große Gebirgslandschaft aus Pappmaschee. Die kunstvolle Ausschmückung, das schneebedeckte Gebirge in der Mitte, die kleinen Bahnhöfe und der täuschend echte Tannenwald,
waren Sverres Werk. Oscar und Lauritz waren für die Lokomotiven und Waggons zuständig gewesen.
Als er durch die Tür trat, spürte er sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht lag es an der Krawatte, die in der Diele auf dem Fußboden lag, vielleicht aber auch an der kompakten Stille. Das Grammofon in Sverres Zimmer war nicht zu hören. Alle Türen waren geschlossen.
Er klopfte an Oscars Tür, öffnete sie und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Das Zimmer war, offensichtlich in aller Eile, ausgeräumt worden. Die Schranktüren standen offen, Kleider lagen auf dem Fußboden verstreut, die Reisetaschen fehlten.
War es doch keine Einbildung gewesen, dass er Oscar in der Menge auf dem Hauptbahnhof gesehen hatte?
Erfüllt von einer bösen Vorahnung, eilte er in Sverres Zimmer. Dort herrschte vorbildliche Ordnung, aber die Reisetaschen fehlten ebenfalls. In den Schränken hingen noch etliche Kleider, vermutlich, weil sie nicht mehr der neuesten Mode entsprachen. Aber der größte Teil der Garderobe fehlte. Das Grammofon stand noch da. Im Badezimmer fehlten die Toilettenartikel.
Sie hatten ihre Sachen gepackt und waren abgereist, Hals über Kopf. Er konnte sich das nicht erklären.
Sie mussten doch einen Brief zurückgelassen haben? Oder handelte es sich um einen geschmacklosen Scherz?
Er eilte in sein eigenes Zimmer, aber dort lag kein Brief, worauf er in die Küche rannte, auch dort fand sich nichts. Sollte er die Vermieterin, Frau Schultze, fragen? Sie mussten sich doch von ihr verabschiedet und ihm irgendeine Nachricht hinterlassen haben, falls sie
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