Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Dingen begonnen und war dann zu Kleidung und Konversation übergegangen. Während des Sonntagsessens hatten sie nicht nur geredet, sondern konversiert.
Anfänglich hatte Frau Schultze vertraute Themen gewählt, also solche, die mit Norwegen zu tun hatten.
Sie und ihr seliger Mann zählten zu den frühen Touristen, die bereits um 1880 an die Fjorde gereist waren. Damit hatten die Unterhaltungen stets begonnen. Gleichzeitig hatten sie gelernt, dass die Serviette rechts neben dem Teller lag und das Brot links. Sie hatte unermüdlich ihr Deutsch korrigiert, bis es nicht mehr nötig gewesen war. Sie hatte sie innerhalb von fünf Jahren zu jungen weltgewandten Männern gemacht.
Dies alles hatte nun ein Ende. Dort standen die Zeichentische aufgereiht. Gegenüber schlief die Eisenbahn zwischen den täuschend echten Bergen und Wäldern.
Alles aus und vorbei.
Zwei Dinge musste er unbedingt noch erledigen. Er musste das Abschiedsessen bei Frau Schultze absolvieren. Und er musste seiner Geliebten einen vermutlich sehr langen Brief schreiben.
III
LAURITZ
Hardangervidda, Mai 1901
Er verfluchte laut und verzweifelt seine Skier. Er verfluchte auch seinen Übermut beim Kauf vor vier Tagen in Kristiania, im Geschäft für Naturfreunde in der Prinsens Gate. Es hatte für Heiterkeit gesorgt, dass er am Tag vor dem Freiheitstag, dem 17. Mai, Skier kaufen wollte. Zweifellos war es dafür recht spät im Jahr, in der Hauptstadt spross schon das erste zarte Grün, Frühlingsblumen prangten in den Beeten, der Schnee war längst geschmolzen, und Sand und Winterschmutz waren von den Straßen gefegt. Die Karl Johans Gate, auf der die Kinder bald paradieren würden, war vom Storting bis zum Schloss mit Fahnen geschmückt.
Jetzt stand er auf einer leeren Eisfläche, und das Wasser reichte ihm bis über die Knöchel. Die obere Eisschicht war unter ihm eingebrochen, und einige entsetzliche Sekunden lang hatte er befürchtet, durchs Eis zu sacken, obwohl man ihm versichert hatte, dass das Eis oben im Gebirge erst in einem Monat aufgehen würde.
Im Laden in Kristiania hatte er alle Ratschläge, die das Skifahren betrafen, abgelehnt. Ski fahren konnte schließlich
jeder Norweger, habe man es einmal gelernt, könne man es bis ans Lebensende.
Inzwischen wusste er, dass das nicht stimmte und dass ihn seine Kindheitserinnerungen getäuscht hatten. Hatten sie wegen Packeis an den Ufern des Fjords nicht das Boot nehmen können, waren seine Brüder und er am Sonntag hinter den Eltern her auf Skiern zur Kirche gefahren. Hin und zurück gut und gern dreißig Kilometer. Er hatte es nicht einmal als sonderlich anstrengend in Erinnerung.
Das war damals. Jetzt war er sehr erschöpft. An seiner Kondition war so weit nichts auszusetzen, war er doch noch vor einem Jahr Europameister im Bahnradrennen geworden. Die langen Strecken, die viel Kondition erforderten, waren seine Stärke gewesen. Als er stolz mit den Skiern auf der Schulter die Prinsens Gate entlanggegangen war, hatte man ihn erstaunt angesehen, und er hatte sich auf einen herrlichen, stärkenden Ausflug über den Fjell gefreut.
Jetzt befand er sich mitten auf einem See, von dem er noch nie gehört hatte, Ustavand, und das Wasser reichte ihm bis über die Knöchel. Die Eiseskälte kroch ihm die Waden und Schienbeine hinauf. Doch was schlimmer war: Er sah den Tod in Form eines jähen Wetterumschlags nahen.
Als er am Morgen von Ustaoset aufgebrochen war, hatte die Sonne noch strahlend von einem wolkenlosen Himmel geschienen. Jetzt drängte in rasendem Tempo ein Schneegestöber wie eine Wand heran. Das Sonnenlicht begann bereits zu schwinden, in wenigen Minuten würde er nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Hilfe gab es keine, es war kein Mensch in der Nähe und auch keine menschliche Behausung. Nur weiße Gebirgslandschaft und dieses verdammte Eis, das sich unter einer dünnen Schneeschicht
verbarg, die ihn nicht trug. Seine Füße fühlten sich schon ganz taub an.
Er war auf dem Meer groß geworden, das Gebirge war ihm fremd. Der peitschende Schnee raubte ihm schon jetzt jede Sicht, und der starke Wind pfiff geradewegs auf ihn zu. Seine Hosenbeine flatterten wie lose Segel.
Der Vater hatte seine drei Söhne vor ähnlichen Gefahren auf See gewarnt. Segelte man im Nebel, musste man einen Orientierungspunkt an Land definieren und den entsprechenden Kompasskurs setzen, bevor die Sicht gänzlich verschwand, und diesen Kurs halten, bis wieder Land in Sicht war. Eigentlich war es jetzt nicht
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