Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
als wir es uns je hätten vorstellen können. Dass es so ist, das kann ich Dir versichern. Ich hoffe innerlich, dass Du es eines Tages ebenfalls erleben wirst.
Das andere, was Du Dir mit Deiner Ingenieursseele wahrscheinlich nicht vorstellen kannst, was durchaus nicht kränkend gemeint sein soll, schließlich sind wir alle Ingenieure, ist, dass dieses große Gefühl einem Mann gelten kann. Aber so ist es in meinem Fall.
Lauritz las den Absatz ein zweites Mal und legte den Brief dann beiseite. Was sein jüngster Bruder beschrieb, war nicht nur schändlich, sondern ein Verbrechen. Und ein Vergehen an Gott.
Es war nicht leicht, in dieser schweren Stunde einen kühlen Kopf zu bewahren. Es gab keine Erklärung oder Entschuldigung für eine solche … abartige Neigung.
Dennoch war Sverres Erklärung für seine Flucht leichter zu akzeptieren:
Du wirst einsehen, mein lieber Bruder, dass ein Mann mit meiner Veranlagung auf der Hardangervidda Schwierigkeiten bekommen würde. Ein Leben in Bergen ist undenkbar. Es würde unserer Mutter das Herz brechen, wenn sie davon erführe.
Mit meinem Lord S. kann ich ein ganz normales Leben führen, weil wir auf seinen Besitzungen abgeschieden leben können. Dort wollen wir unsere Pläne für ein effektiveres englisches Eisenbahnnetz und vieles andere ausarbeiten. Auf die Hardangervidda passe ich nicht, nach Bergen noch weniger, und für Mutter wäre es eine Katastrophe.
Ich gehe davon aus, dass in der Zukunft, Du wirst es zwar nicht glauben, Lauritz, aber ich schreibe es trotzdem, Leute wie ich entkriminalisiert und gleichberechtigte Mitbürger sein werden. Wir befinden uns schließlich, wie der Rektor so eloquent
unterstrichen hat, im umwälzendsten Jahrhundert der Menschheit.
Dein Dich sehr liebender und ergebener Bruder
Sverre
Lauritz tat etwas, was in seiner Familie ganz unüblich war, er weinte, zum ersten Mal seit Kindertagen.
Vorgestern waren sie noch die glücklichsten Brüder der Welt gewesen, zumindest hatte er es so in Erinnerung.
Er nahm die beiden Briefe und kontrollierte das Datum. Sverres Brief war von vorgestern. Sobald Lauritz in den Zug nach Freital gestiegen war, hatte Sverre in aller Ruhe seine von langer Hand vorbereitete und geordnete Flucht mit dem englischen Homophilen organisiert.
Oscars Brief war vom Vortag. Als er nach oben gegangen war, um seinen Brief unter das Lineal auf dem Zeichentisch zu schieben, musste er also zu seinem Erstaunen festgestellt haben, dass dort bereits ein Brief von Sverre steckte. Er hatte ihn natürlich nicht geöffnet. Keiner der beiden hatte geahnt, dass der andere ebenfalls türmen würde.
Er blieb allein mit der Katastrophe zurück. Eine Konsequenz, das sah er jetzt ein, verstand sich von selbst. Er war zu fünf Jahren Hardangervidda verurteilt worden, während sich die Homophilen mit unaussprechbaren Dingen in London verlustierten und Oscar leidend in die Welt flüchtete.
Das war nicht gerecht. Außerdem war es eine Katastrophe.
Keine Katastrophe war gerecht, das wurde ihm klar, als er sich wieder etwas beruhigt und seine Tränen getrocknet hatte.
So hatte alles begonnen. Mit einer Katastrophe. Ein
Wintersturm hatte ihnen den Vater genommen. Und durch göttliche Intervention waren sie aus ewiger Armut und von der Sklavenarbeit für ein paar Kronen am Tag befreit worden.
Sie hatten ein Diplomingenieurexamen abgelegt, und die Welt lag ihnen zu Füßen. Wäre nicht eine weitere Katastrophe über sie hereingebrochen. Es war wahrhaftig nicht leicht, den göttlichen Plan zu verstehen, der dahintersteckte.
Er ließ den Blick durch das Atelier schweifen, in dem sie so hart gearbeitet hatten. Wunderbare gemeinsame Abende hatten sie hier verbracht! Im Unterschied zu den anderen Studenten hatten sie dankenswerterweise gemeinsam arbeiten, einander um Rat fragen können, immer war es möglich gewesen, alternative Lösungen zu diskutieren, bis Sverre schließlich eine Skizze des Vorschlags anfertigen konnte.
Seine Drachenornamente zierten nunmehr die Fensterbögen. Frau Schultze war begeistert gewesen. Schließlich liebte sie Norwegen. Sie hatte ihm Aufträge bei Bekannten besorgt, die natürlich großzügigst entlohnt worden waren.
Fünf Jahre lang hatten sie jeden Sonntagabend bei Frau Schultze im großen Haus gegessen. Als sie als Gymnasiasten aus Kristiania nach Dresden gekommen waren, hatten sie nur gebrochen Deutsch gesprochen und keinen Benimm gehabt.
Frau Schultze hatte mit den Tischmanieren und ähnlich einfachen
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