Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
früher abgereist waren?
Vielleicht lag ja ein Brief auf seinem Zeichentisch im Atelier, dort hatten sie immer Mitteilungen füreinander hinterlegt.
Er rannte die Treppe hinauf, drei Stufen auf einmal nehmend. Und tatsächlich, auf seinem Zeichentisch klemmten unter dem langen Winkellineal zwei weiße Umschläge. Der eine war zweifellos von Sverre, die zierliche und elegante Handschrift war unverkennbar. Ebenso die kantige und etwas hastige Schrift Oscars auf dem anderen Kuvert. Beide Brüder hatten dasselbe geschrieben: »An meinen lieben Bruder Lauritz«.
Er zog die beiden Briefe unter dem Lineal hervor und begab sich zu den Sesseln am großen Fenster, wo sie so viele Abende nach getaner Arbeit an den Zeichentischen zusammengesessen hatten. Er wog die Briefe in der Hand. Sie waren beide leicht und enthielten je einen Briefbogen.
Er zögerte, die Umschläge zu öffnen, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach doch nur schlechte Nachrichten enthielten. Aber natürlich konnte er sie nicht einfach ignorieren, er musste die Briefe lesen, je früher, desto besser. Welchen zuerst? Den von Oscar oder den von Sverre?
Er warf eine Münze und riss dann Oscars Brief auf. Er war kurz und melodramatisch:
Lieber Lauritz, heiß geliebter Bruder und Freund!
Ich habe heute nicht nur Dresden für immer verlassen. Meine Verzweiflung und meine Schmach sind so groß, dass ich sie kaum in Worte fassen kann. Gestern Abend stand ich lange in der Kälte auf der Augustusbrücke und habe ernsthaft in Erwägung gezogen, diese Welt zu verlassen. Ich war so verliebt, wie Ihr, meine Brüder, es Euch nicht vorstellen könnt, schließlich
seid Ihr Ingenieure. Ich wurde bitter enttäuscht und betrogen, man hat mich schändlich um meine tausend Mark gebracht. Ich kann keinem von Euch mehr in die Augen schauen. Ich fliehe ganz weit weg.
Lebt wohl!
Oscar, Euer verzweifelter Bruder
Lauritz versuchte zu begreifen, was er gerade gelesen hatte. Oscar war betrogen worden. Von jemandem, in den er vernarrt gewesen war. Dafür schämte er sich begreiflicherweise.
Wenn das alles war, war das traurig und ärgerlich, aber wohl kaum ein Weltuntergang. Oscar hatte schon immer einen Hang zur Dramatik gehabt, aber Lauritz hatte das nie richtig ernst genommen.
Das Ganze konnte nur eine der Verzweiflung geschuldete, impulsive Tat sein. Lauritz war überzeugt, dass Oscar schon sehr bald mit eingeklemmtem Schwanz zurückkommen und seine Wunden lecken würde. Schließlich war er erst fünfundzwanzig.
Lauritz wurde verlegen, als er sich seiner gönnerhaften Gedanken bewusst wurde. Schließlich war er auch erst sechsundzwanzig. Wie hätte er reagiert, wenn Ingeborg ihm eröffnet hätte, alles sei nur ein Spiel gewesen und er sei ganz schön eingebildet, wenn er glaube, sie würde jemanden wie ihn lieben.
Mit Sicherheit hätte er dann auch auf einer der Brücken über die Elbe gestanden und in den schwarzen Fluss gestarrt. Wer war er also, Oscar zu verurteilen?
Doch auch wenn die Wunde frisch und tief war, würde sie sicher bald verheilen. Irgendwann würde Oscar Frau
und Kinder in Bergen haben, und was sich jetzt wie eine Katastrophe und größte Verzweiflung ausnahm, würde schlimmstenfalls als eine zynisch-amüsante Anekdote über die Torheit der Jugend in Erinnerung bleiben.
Er war gespannt, was ihn in dem zweiten Umschlag erwartete. War Sverre ebenfalls von der großen, unglücklichen Liebe heimgesucht worden?
Sverres Problem war anders gelagert, seine große Liebe wurde erwidert, und er hatte sich jetzt von ihr entführen lassen. Von einem Mann, einem gewissen Lord S.
Homosexualität war nicht nur wider die Natur, sie war auch unbegreiflich. Lauritz hatte frivole Geschichten darüber gehört, was in dem englischen Club, der Theatergesellschaft und der Operngesellschaft in Dresden vor sich ging. An diesen Klatsch hatte er jedoch nie geglaubt, weil er es nicht für eine physische Möglichkeit gehalten hatte, dass … Nein, er wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.
Aber jetzt hatte er es schwarz auf weiß. Er konnte ja wohl kaum das Bekenntnis seines Bruders infrage stellen. Sverre betonte noch:
Es gibt zwei Dinge, mein lieber Lauritz, die sich nicht allein mit Intelligenz erfassen lassen. Das eine ist die Liebe, die unsere Dichter seit mehr als zweitausend Jahren zu schildern versuchen. Wir sind alle vom Hohen Lied der Liebe beeinflusst. Und doch, wenn wir sie erleben, falls es uns je vergönnt sein sollte, ist das Erlebnis um so vieles größer,
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