Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
jubeln und nicht voll und ganz an Lauritz’ Triumph teilhaben, aus dem einfachen Grund, dass sie sich in dem Augenblick, der einer der größten ihres Lebens hätte sein sollen, unendlich klein vorkam. So viele Jahre hatte sie die Hardangervidda überquert, und jetzt war es vollbracht!
Er sah es, zwar nicht sofort, aber er sah es.
»Geliebte Ingeborg, ist etwas passiert? Verzeih, dass ich mich so brüste, ich bin einfach nur so glücklich. Was ist passiert?«
»Ich habe heute meine Urkunde bekommen. Ich bin Ärztin«, erwiderte sie kurz mit Tränen in den Augen.
So hatte sie sich das Ganze nicht vorgestellt. Aber jetzt war es zumindest gesagt.
Lauritz schwieg und schien einen Augenblick nachzudenken. Dann sprang er auf und ging rasch um den Tisch herum. Er fiel vor ihr auf die Knie und nahm ihre Hände.
»Verzeih«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, ich dachte, die Prüfung sei erst im Herbst … Aber das spielt ja auch keine Rolle, alles andere ist unbedeutend, vergiss alles, worüber ich geredet habe, vergiss das Gold, vergiss auch Oscar, vergiss Henckel & Dornier, aber vergiss nie, dass du der Mensch bist, den ich am meisten bewundere. Ich bin unglaublich stolz auf dich!«
Sie segelten mit der Ran den Sognefjord hinauf. Nicht nur, weil das eine traumhaft schöne Fahrt war. Jedes Hotel in der Gegend von Vangsnes war seit Langem ausgebucht. Zehntausende Gäste waren gekommen, um dem großen Ereignis beizuwohnen. Lauritz hatte sich sagen lassen, dass die Lebensmittel in der gesamten Region zur Neige gingen und dass es sogar im Kviknes-Hotel bald nur noch die trockenen Plätzchen geben würde, die bislang niemand haben wollte. Also hatte man an Bord der Ran ausreichend Lebensmittel und Getränke für sechs Personen für drei Tage gebunkert. Sie würden jedenfalls keine Not leiden.
Ingeborg war skeptisch gewesen, als ihr Mann ihr versicherte, sechs Personen könnten problemlos an Bord unterkommen. Es gab zwei Salons, ein Schlafzimmer und die Vorpiek, in der man ein Bett machen konnte. Außerdem waren sie immer zu sechst, wenn sie zur Kieler Woche segelten. Noch dazu hatten sie nur sehr wenige Segel dabei, die Damen würden also ausreichend Platz für ihre Garderobe haben. Lauritz hatte den Umstand, dass es für drei Damen nur einen Waschraum gab, der so winzig war, dass man ihn nur rückwärts betreten konnte, für unproblematisch
befunden. Er war schlecht beleuchtet und der Spiegel nur wenig größer als zwei Handflächen. Wie sie selbst und die Damen Cambell Andersen und Halfdan Michelsen, Alberte und Marianne, sich unter solchen Verhältnissen für das große Bankett vorbereiten sollten, war ein Problem, das Lauritz offenbar nicht einmal in den Sinn gekommen war.
Jetzt ließ es sich aber nicht mehr ändern, und da es in der ganzen Gegend kein einziges Hotelzimmer mehr gab, ging es ihnen an Bord der Ran trotz allem besser als den meisten anderen an Land. Es war unglaublich, wie viele Menschen gekommen waren.
Ingeborg saß neben Lauritz im Cockpit. Mit einer Hand hielt er das Ruder, mit der anderen zärtlich die ihre. Die Gäste fanden diesen Anblick möglicherweise etwas merkwürdig, aber das war ein Geheimnis zwischen Ingeborg und Lauritz, ein Traum, den er schon gehabt hatte, lange bevor es die geringste Aussicht auf seine Verwirklichung gab. Deswegen war es ihm auch vollkommen egal, was seine Freunde eventuell denken könnten.
Jens Kielland und Kjetil Haugen hatten die Einladung zum Festakt und zum Bankett ausschlagen müssen, da sie wie immer um diese Zeit des Jahres mit ihren Familien auf Reisen waren. Jens war in Deutschland und Kjetil in Italien.
Das sensationelle Sommerwetter, das beste des Jahrhunderts und der letzten hundert Jahre, hielt Ende Juli immer noch an. Die südwestliche Brise war lau, selbst auf dem offenen Meer vor der Sognefjordmündung.
Ingeborg lehnte sich mit geschlossenen Augen und der Sonne zugewandtem Gesicht zurück.
Sie genoss ihr Leben. Die Wochen auf Frøynes waren
wunderschön gewesen. Die Kinder waren sonnengebräunt und hatten fast die ganze Zeit an dem kleinen Strand mit dem Steg, den Lauritz gebaut hatte, verbracht. Die Abendessen mit Großmutter Maren Kristine waren inzwischen weniger anstrengend, und das war hauptsächlich ein Verdienst der Kinder. Die Großmutter liebte sie und verwöhnte sie auf eine Art, die verblüffend von ihrer sonst so strengen Art abwich. Nach dem Tischgebet durften sie lärmen und reden, so viel sie wollten, und es beeinflusste
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