Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Verschönerungskommission sofort nach dem Riechsalz gegriffen hätten und vermutlich trotzdem in Ohnmacht gefallen wären.
Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sie teilweise, aber natürlich nur teilweise mit Theatermasken vor dem Gesicht lebten. Außer wenn sie mit Theaterleuten feierten.
Aber Verstellung war wichtig für das Geschäft. Lauritzen & Haugen hatte in den letzten zwei Jahren den Umsatz vervierfacht.
Es war ein herrliches Gefühl, den Bahnsteig unter dem hohen gewölbten Glasdach zu betreten. Sie hatte sich noch nicht recht daran gewöhnt, die feierliche Einweihung des neuen Bahnhofs lag noch keine zwei Monate zurück. Jetzt hatte sie endlich das Gefühl, heimzukommen, wenn sie aus Kristiania zurückkehrte, in eine richtige europäische Stadt. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie Lauritz rechtschaffen betrunken erlebt hatte. Kielland und er hatten spätabends frivole Lieder gesungen und lallend von neuen Bauprojekten gesprochen.
Kutscher und Gepäckträger warteten wie immer auf dem Bahnsteig, aber dieses Mal bat sie darum, ihr Gepäck nach Hause zu bringen und mitzuteilen, sie würde später kommen. Sie habe die Absicht, zu Fuß zu gehen.
In Finse, wo es sommerlich warm gewesen war, hatte sie nicht bedacht, dass sie in Bergen dann voraussichtlich südeuropäische Hitze erwarten würde.
In der großen Bahnhofshalle roch es immer noch nach Farbe und Putz. Die braun lackierten Türen glänzten, das Messing und die Glasscheiben des Restaurants funkelten.
Kellner eilten hin und her. An Samstagnachmittagen herrschte hier Hochbetrieb, und an einem heißen Tag wie diesem bot das große Steingebäude Kühle, wie sie die Bergener normalerweise nicht nötig hatten. Auf dem Weg zum Haupteingang betrachtete Ingeborg lächelnd das Relief des Wikingerschiffes. Sie hatte schon so oft gedacht, dass die entzückende Geschichte von den drei kleinen Brüdern und dem Wikingerschiff eigentlich aufgeschrieben werden müsste.
In der Strømgaten schlug ihr die Hitze, ja in der Tat Hitze entgegen. Sie bereute ihren Entschluss, zu Fuß nach Hause zu gehen, obwohl der Weg nicht weit war. Sie musste nur am Lille Lungegårdsvann vorbei, dann nach rechts auf die Fredrik Meltzers Gate, und dann war sie schon so gut wie zu Hause in dem großen weißen Haus in der Allégaten.
Sie brauchte etwas Zeit für sich, um sich zu sammeln und zu überlegen, wie sie Lauritz die großartige Neuigkeit überbringen sollte. Jene Neuigkeit, die sie bislang nur Alice erzählt hatte.
»Geliebter Lauritz, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei. Du hältst Frau Dr. Lauritzen in deinen Armen.«
Das war eine Möglichkeit. Eine andere war, eine sehr peinliche Situation aus dem Velodrom zu wiederholen, als sie in eher unfemininer Pose mit über den Kopf erhobenen Armen laut gebrüllt hatte, nachdem er das entscheidende Rennen gewonnen hatte. Bei der Variante würde es vermutlich ein paar Sekunden dauern, bis er verstand.
Nein, das war nicht lustig. Sie musste sich etwas Besseres einfallen lassen.
Während sie die Straße entlangging, fiel ihr auf, dass ihr
Hut vielleicht etwas zu mädchenhaft war. Es war ein flacher Strohhut mit Rosen aus Papier und einem schwarzen Band, der fast französisch anmutete. Schließlich war sie Frau Lauritzen und hatte bereits drei oder vier Bekannte begrüßt. Aber musste sie als Frau Dr. Lauritzen einen großen schwarzen Hut mit Flor tragen? Doch wohl nicht im 20. Jahrhundert und nicht in Norwegen, wo die Frauen endlich das Wahlrecht erhalten hatten?
In der Strømgaten kam sie an mindestens drei Baustellen vorbei, an denen Lauritzen & Haugen mitarbeitete. Die Stadt befand sich im Wandel. Angeblich gab es mittlerweile um die vierzig Automobile in Bergen.
Lauritz hatte erwogen, ein Automobil zu kaufen, aber sie hatte Nein gesagt. Er hatte mehr aus sentimentalen denn aus geschäftlichen Gründen ein Haus in der Kaigate erworben und dort die neue Hauptniederlassung von Lauritzen & Haugen untergebracht und nicht im Zentrum, wo die meisten angesehenen Firmen ihre Büros unterhielten. Er hatte ihr, und, wie sie annahm, vermutlich niemand anders anvertraut, dass diese Entscheidung einer Kindheitserinnerung geschuldet war. Als er und seine Brüder, damals um die zehn Jahre alt, zum ersten Mal mit ihrem Onkel einen Spaziergang unternahmen, hätten die Häuser an der Kaigaten einen unbeschreiblichen Eindruck auf sie drei gemacht. Und jetzt besaßen sie, oder zumindest zwei von ihnen, das größte und schönste dieser
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