Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
betrogen hatte, war schlimm, mehr als das. Er versuchte sich an das norwegische Wort für »herzzerreißend« zu erinnern, aber es fiel ihm nicht ein, und er stellte fest, dass er zum ersten Mal wieder auf Norwegisch statt auf Deutsch dachte. Noch vor einer Woche war Dresden seine Heimat gewesen. Jetzt war er unwiderruflich zurück in seiner Heimat Norwegen.
Völlig unvermittelt brach er in Gelächter aus. Er blieb keuchend stehen, beugte sich über seine gekreuzten Skistöcke und schluchzte mehr, als dass er lachte. Er befand sich mitten in einem rasenden Schneesturm auf der Hardangervidda, der ihm kaum Sicht auf die Kompassnadel gewährte, und konnte sich beinahe nicht mehr auf den Beinen halten. Und das im Frühling, der milden Jahreszeit! Verglichen mit dem, was in ein paar Monaten nach dem kurzen Sommer kommen würde. Nur Gott wusste, wie viel Zeit er in dieser weißen Hölle verbringen und für einen lächerlichen Lohn arbeiten musste.
Aber jetzt war er nun mal hier, und daran ließ sich nichts ändern. Der Schneesturm würde ihn nicht hindern und auch nicht die zu erwartenden noch schlimmeren Winterstürme. Es war eine Frage der Ehre. Die wohlwollende Bürgerschaft Bergens hatte seinen Brüdern und ihm die beste Ingenieursausbildung zuteilwerden lassen, die die Welt zu bieten hatte. Und der Preis, den sie dafür zahlen sollten, war so gesehen nicht zu hoch: Brücken bauen, Tunnel bauen, die Bergenbahn bauen.
Oscar, dieser Einfaltspinsel, war wie ein tragischer Held
mit gebrochenem Herzen und verletztem Stolz wie Goethes Werther desertiert.
Auch Sverre war desertiert, und das war auch besser so. Sverre war nicht mehr sein Bruder. Sverre existierte nicht mehr.
Er hatte jetzt ein gutes Tempo. Vielleicht sollte er langsamer fahren und den Kompass häufiger kontrollieren.
Jetzt war es an ihm, die Schuld abzubezahlen. Er würde Brücken für drei bauen. Es stimmte wohl, dass auch er vom Desertieren geträumt hatte, aber da hatte er noch nicht die geringste Ahnung von den Plänen der anderen gehabt. Wie die Dinge nun lagen, hatte er keine Wahl. Die Flucht der Brüder zwang ihn, ebenso wie die harten Bedingungen des Barons, jahrelang von Ingeborg getrennt zu leben.
Die Motive des Barons waren leichter zu verstehen. Sogar leichter zu entschuldigen.
Die Gleitfähigkeit seiner Skier begann erneut nachzulassen. Der Schnee, der ihm ins Gesicht peitschte, ging in Schneeregen über. Aber der Sturm ließ nicht nach. Er blieb stehen und schob die Skier in der Spur vor und zurück, aber Eis und Schnee klebten zu fest. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Skier wieder auszuziehen und das Messer hervorzunehmen.
Als er die Eiskruste und die Schneeklumpen von den Skiern kratzte, fiel ihm auf, dass er an den Füßen nicht mehr fror. Unter den Kleidern war er schweißnass und wusste, dass er nicht zu lange verweilen durfte, weil sonst der Schweiß einen Eispanzer bildete. Er musste rasch das Eis von den Skiern entfernen. Trotzdem musste er gründlich arbeiten, denn sonst würde er gezwungen sein, bald wieder anzuhalten.
Er hätte reich werden können, vielleicht nicht reich in den Augen des Barons, aber reich genug, um Ingeborg ein anständiges Leben zu bieten, wie der Baron es ausgedrückt hatte. Er hatte diverse, sehr lukrative Angebote erhalten. Wie leicht wäre es gewesen, dieser Versuchung nachzugeben! Und daraufhin mit Ingeborg zu leben, bis dass der Tod sie scheiden würde.
Drei Deserteure, ein Desaster, drei Verräter. Eine Schande, ein unmöglicher Gedanke.
Ein Mann steht zu seinem Wort, sei es ein stillschweigendes Abkommen mit den eisenbahnbegeisterten Bergener Bürgern oder ein explizites Versprechen wie das Ingeborg gegenüber. Er hatte ihr geschworen, nie eine andere zu lieben, nie eine andere zu heiraten. Und dieses Wort würde er halten.
Ingeborg oder seine Ehre, ein unlösbares Dilemma. Nur mit solchen Schwierigkeiten durfte man sich an Gott wenden.
Mit starren Fingern zwang er sich, selbst die allerkleinsten Eiskristalle abzukratzen, murrte darüber, dass er keine dünneren Handschuhe hatte. Die dicken aus Seehundfell, die er in der Prinsens Gate gekauft hatte, waren zu unhandlich. Gerade als er seine Tätigkeit beendet hatte, legte sich der Wind plötzlich, und die Sonne brach durch das Schneegestöber, anfangs als unerwartete Erhellung, dann als weiß schimmernde Kugel hinter aufreißenden Wolkenbänken, die sich in einzelne Wolken auflösten. Erste Flecken blauen Himmels waren zu sehen und
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