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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Blick zu lassen. Dann schob sie die Kinder vorsichtig weg. Sie war immer noch benommen. Sie musste sich zusammenreißen, nachdenken.
    »Wollen Sie damit sagen, dass Harald nach der Schule nicht nach Hause gekommen ist, Sigrid?«, fragte sie.
    »Ja, gnädige Frau. Ich dachte, er ist mit Ihnen unterwegs.«
    »Aber hätte er nicht schon vor mehreren Stunden hier sein müssen?«
    »Ja, gnädige Frau. Aber ich dachte …«
    Die Kinder verstanden intuitiv, dass etwas Schreckliches geschehen war, und taten keinen Mucks. Ingeborg hinkte rasch, da sie noch einen Schnürstiefel am Fuß hatte, zum Telefon und rief im Büro an. Lauritz war sofort am Apparat, als hätte er neben dem Telefon gesessen und gewartet.
    »Harald ist nicht aus der Schule nach Hause gekommen«, teilte sie ohne weitere Begrüßung mit. »Er ist
schon drei Stunden verspätet. Du musst die Polizei verständigen.«
    »Aber Ingeborg. Liebes. Man kann nicht gleich die Polizei anrufen, weil ein Schuljunge ein wenig trödelt. Die Polizei hat in diesen Zeiten Wichtigeres zu tun.«
    »Nein, hat sie nicht«, widersprach sie. »Komm nach Hause. Ich rufe die Polizei an, gleichgültig, was du denkst.«
    »Ich komme sofort, aber, Liebes, wir können uns wegen einer solchen Bagatelle nicht lächerlich machen. Es gibt so vieles, was einen kleinen Jungen aufhalten kann. Baumhäuser, Spiele auf den aufregenden Trümmergrundstücken in der Stadt, Spielkameraden, die sich was einfallen lassen …«
    »Er hat keine Spielkameraden! Das weißt du sehr gut. Mach dich auf den Weg. Ich rufe die Polizei an.«
    Sie beendete kurzerhand das Gespräch und meldete ein weiteres an. Sie verlangte Oddvar Grynning, den Polizeichef der Stadt.
    Die Reaktion des Polizeichefs unterschied sich interessanterweise von der von Lauritz. Nachdem er sich Ingeborgs verzweifelten Bericht angehört hatte, wurde er sofort professionell-sachlich und effektiv. Er befragte sie eingehend über die Schule, die Klasse und den Nachhauseweg und versprach, sofort alle verfügbaren Männer loszuschicken. Bevor er das Gespräch beendete, versicherte er Ingeborg noch, dass sie den Jungen sehr bald finden würden.
    Ingeborg stand unschlüssig neben dem Telefon. Was sollte sie jetzt tun? Was war geschehen? War Harald schon tot? Lag er irgendwo misshandelt und blutend herum? Hatten sie ihn ins Wasser geworfen? Er schwamm wie ein kleiner Fisch, hatte es in den warmen Sommern auf Osterøya gelernt. Aber die Kaiufer waren hoch. Nein, bei seinem
Verschwinden war es noch hell gewesen, da konnte niemand unbemerkt ein Kind ins Wasser werfen.
    Ihre drei Kinder starrten sie an, schweigend, verschreckt. Sie unterdrückte den Impuls, auf sie zuzulaufen und sie in die Arme zu schließen. Das ging nicht. Nicht jetzt. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren.
    »Beschäftigen Sie bitte die Kinder, Sigrid. Ich muss die Praxis vorbereiten«, befahl sie und schüttelte erst einmal verärgert den Stiefel ab.
    Den Praxisraum hatte sie schon seit Monaten nicht mehr benutzt. Sie lüftete, nahm alle seit einem Jahr nicht mehr verwendeten chirurgischen Instrumente hervor und legte sie in den Dampfsterilisator. Dann begann sie, systematisch alles mit Alkohol abzuwischen. Es war wie eine Beschwörung, als würde man nicht benötigen, was sie alles für eine Operation vorbereitet hatte, und als würden die Mächte gegen sie wirken, wenn sie es unterließ.
    Hufgeklapper auf dem Pflaster, Lauritz kam nach Hause.
    Sie erwartete ihn in der Diele, küsste ihn flüchtig, half ihm aus dem Mantel und nahm ihm den Hut ab. Dann ging sie zu ihrem Lieblingssofa im großen Salon und goss einen Whisky und einen deutschen Weinbrand ein.
    Als sie Platz nahm, sah sie, wie mitgenommen Lauritz aussah. Offenbar hatte auch er den Ernst der Lage inzwischen erkannt.
    »Vielleicht hat Harald ja neue Freunde gefunden und spielt bei jemandem, der kein Telefon hat, mit der Eisenbahn«, meinte Lauritz und trank einen großen Schluck Whisky.
    »Er hat keine Freunde, und du weißt auch, warum.«
    »Hm. Ja. Der verdammte Krieg. Auch Kindern gegenüber
unerbittlich. Was hat Oddvar gesagt? Ich vermute doch, dass du Oddvar direkt angerufen hast?«
    »Er hat die Sache sehr ernst genommen. Er will sein Möglichstes tun. Verzeih, aber können wir deutsch sprechen?«
    »Ich dachte, dass du jede Möglichkeit nutzen willst, dein Norwegisch zu verbessern?«
    »Heute Abend nicht! Ich muss klar denken, und das kann ich nicht auf Norwegisch. In der Nähe der Schule, wenn man eine gerade

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