Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
deutschen Ärztin gut behandelt worden sei. Bis zu seinem Kommentar über die Deutschen hatte sie ihn einfach als einen Patienten betrachtet, noch dazu einen höflichen, jedenfalls nicht als einen Feind. Aber rein sachlich betrachtet, waren sie zweifellos Feinde in der irrsinnigen Welt, die der Krieg hervorgebracht hatte.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich ein weiteres, offenbar mit Verwundeten beladenes Rettungsboot näherte. Sie mussten aufräumen und alles für die nächste Gruppe vorbereiten. Gleichzeitig erschien ein Feldwebel
mit einigen Männern und zwei Pferdedroschken, um die französischen Soldaten ins Militärkrankenhaus zu bringen.
»Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madame«, sagte der Mann mit dem zusammengenähten Brustmuskel. »Ich heiße Henri Letang, und ich hoffe, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen.« Er versuchte, ihre Hand mit seiner Rechten zu ergreifen, verzog dann aber das Gesicht vor Schmerzen und begnügte sich mit einer Verbeugung. »Übrigens«, sagte er, als er von zwei norwegischen Soldaten aus dem Operationszelt geführt wurde, »ist Enseigne de Vaisseau de Première Classe der Rang über Leutnant in England und Deutschland.«
»In Deutschland wäre das ein Oberleutnant zur See«, antwortete Ingeborg, ohne weiter nachzudenken und ohne den seltsamen Gesichtsausdruck zu verstehen, den ihr der Franzose zuwarf. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit bereits den neuen Verwundeten zugewendet, die ins Ärztezelt getragen wurden.
Sie war noch etliche Stunden intensiv mit weiteren Brandverletzungen und Granatsplitterwunden beschäftigt. Das Schlimmste an diesem Nachmittag war ein Achtzehnjähriger, den sie zur Amputation eines Beines ins Krankenhaus schicken mussten. Im Zelt konnten keine Vollnarkosen durchgeführt werden, sie befassten sich nur mit Operationen mit örtlicher Betäubung. Der junge Mann war bei Bewusstsein und verstand unglücklicherweise, was die drei Ärzte beschlossen. Etwas anderes wäre auch gar nicht möglich gewesen, da seine rechte Wade unter dem Knie nur noch an ein paar Hautfetzen hing.
Er klammerte sich an der Trage fest und schrie herzerweichend,
als die Sanitäter erschienen, um ihn wegzutragen, dem Unvermeidlichen entgegen.
Eigentlich war es ein guter Arbeitstag, dachte sie, als sie von der Munkebryggen nach Hause ging. Vermutlich, weil bis auf ihren ersten Patienten keiner der vor Schmerzen jammernden oder schreienden Verwundeten seinen Hass auf die Deutschen kundgetan hatte. Sie hatte nie gewagt, solche Ausbrüche zu kommentieren, nicht einmal wenn sie einem Seemann eines seiner Gliedmaße oder gar das Leben gerettet hatte. Eigentlich hätte sie ihnen sagen müssen, dass sie eine deutsche Ärztin war.
Die Uniform des norwegischen Sanitätsoffiziers schützte sie, wenn sie durch die Stadt ging. Diejenigen, die sie als Frau Lauritzen sehen wollten, den deutschen Feind, mussten unvermeidlich auch die weiße Armbinde mit dem roten Kreuz neben der norwegischen Fahne auf dem Uniformärmel zur Kenntnis nehmen. Beim Gedanken an die norwegische Flagge begann sie zu zittern und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Sie dachte an den Spinnaker der Ran , die wahrscheinlich größte norwegische Flagge der Welt, der die Hohenzollern des Kaisers vor nicht allzu langer Zeit salutiert hatte.
Die Ran gab es nicht mehr. Sie war vom Hass verbrannt worden. Aber ihre Segel existierten noch. Diese Einsicht machte ihr zumindest etwas Hoffnung. Eines Tages würden sie diese Segel wieder hissen.
Die Tage wurden allmählich kürzer, und als sie das Haus in der Allégaten erreichte, dämmerte es bereits. Vielleicht würde sie mit den Kindern im kleinen Salon das erste Feuer des Herbstes im Kamin anzünden.
»Mama ist zu Hause! Kommt, Kinder!«, rief sie ins
Haus, als sie ihre Uniformjacke und die graue Bootsmütze in der Diele aufhängte. Aus dem Obergeschoss waren sofort helle Stimmen und eilige Kinderfüße zu hören. Die Haushälterin erschien jedoch zuerst, um ihr aus den Schuhen zu helfen. Dann legte sie plötzlich die Hand vor den Mund und wurde sichtlich bleich.
»Was ist los?«, fragte Ingeborg arglos.
»Haben Sie Harald nicht mitgebracht, gnädige Frau?«, fragte die Haushälterin überflüssigerweise. »Wollten Sie ihn nicht von der Schule abholen?«
Ingeborgs innere Welt stagnierte. Im selben Moment drängten sich drei fröhliche Kinder um sie, um sie zu umarmen. Sie erwiderte die Umarmungen halbherzig, ohne die Haushälterin aus dem
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