Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Linie zwischen der Schule und unserem Haus zieht, liegt ein großes, vom Feuer zerstörtes Gebiet. Kinder dürfen dort nicht spielen, weil es gefährlich ist.«
»Und du glaubst, dass er sich dort befindet?«, fragte Lauritz erstaunt.
»Ja, das glaube ich. Entweder tot oder schwer misshandelt, sonst hätte er sich irgendwie nach Hause geschleppt. Hoffentlich nur misshandelt, aber in der Nacht könnte er zu sehr auskühlen, man muss ihn heute Abend noch finden. Wenn die Täter Kinder waren, seine lieben norwegischen Klassenkameraden zum Beispiel, dann haben wir noch die Chance, ihn zu retten.«
»Jetzt malst du aber wirklich den Teufel an die Wand. Kinder prügeln sich, aber nicht so, dass jemand liegen bleibt.«
»Irgendwo liegt er, sonst wäre er zu Hause. Es wird eine milde Nacht, ich habe gerade nachgesehen, elf Grad. Eine Abkühlung könnte von Vorteil sein. Ich habe mich vorhin geirrt. Es hängt natürlich ganz von seinen Verletzungen ab.«
»Aber, liebe Ingeborg, wie kannst du so sicher sein, dass er ernsthaft verletzt ist?«
»Ich weiß das, weil er die Schule vor vier Stunden verlassen hat und nicht aus eigener Kraft nach Hause gekommen ist!«
Lauritz sah aus, als wollte er weitere Einwände vorbringen, überlegte es sich dann aber anders. Er erhob sich und füllte ihre Gläser nach.
»Danke«, sagte Ingeborg, als er ihr ihren zweiten Weinbrand reichte. »Danach trinke ich heute Abend nichts mehr. Falls in der Praxis etwas zu tun sein sollte, wenn sie ihn nach Hause bringen.«
Ein helles Silberglöckchen schlug siebenmal. Die französische Uhr auf dem Kaminsims. Lauritz war sehr stolz gewesen, als er sie bei einer Auktion ersteigert hatte. Jetzt klang es wie Hohn. Ein Cherub mit blauem Schurz zeigte mit seinem Zeigefinger, dass vier Stunden vergangen waren, seit Harald hätte zu Hause sein müssen.
Irgendwo war er. Vielleicht verletzt, vielleicht schwer misshandelt, vielleicht rang er seit vier Stunden mit dem Tod. So war es. Lauritz versuchte nicht mehr, optimistische Szenarien zu entwerfen, an die er in seinem Innersten auch nicht glaubte. Auch er bereitete sich auf das Schlimmste vor.
Sie sah es ihm an. Er ließ die Schultern hängen und wurde blass. Lauritz war ein vernünftiger Mensch, der fast alle Probleme mit dem Rechenschieber anging. Im Augenblick handelte es sich um Wahrscheinlichkeitsrechnung.
»Wenn sie Harald getötet haben …«, hob er an, wurde aber sofort von Ingeborg zum Schweigen gebracht.
»Es ist nicht wahrscheinlich, dass er tot ist, eher schwer verletzt«, wandte sie ein.
»Woher willst du das wissen?«
»Er hat die Schule verlassen. Mitschüler haben ihn verfolgt. Es geht trotz allem um Kinder. Sie können ein anderes Kind schwer verletzen, vor allem wenn sie viele sind. Aber sie haben nicht die Kraft eines Erwachsenen. Sie können nicht töten.«
»Sofern sie keine Messer verwenden.«
»Ja, sofern sie keine Messer verwenden. Aber nicht einmal dann ist es sicher, dass es einem Kind gelingt, ein anderes Kind zu töten. Hingegen kann es zu einem gewissen Blutverlust kommen, der kritisch wird, je mehr Zeit verstreicht.«
»Herrgott, Ingeborg! Du sprichst von unserem Harald!«
»Dessen bin ich mir außerordentlich bewusst. Ich versuche nur, mich als Ärztin in äußerste Bereitschaft zu versetzen. Als wäre Harald irgendein norwegischer oder französischer Seemann.«
»Französischer?«
»Ja, aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich habe heute einen Franzosen operiert. Bald kommt das Polizeiauto. Ich spüre das. Nicht als Ärztin, sondern als Mutter. Bald kommen sie mit ihm nach Hause, und dann musst du mir helfen, ganz gleichgültig, wie schlimm es ist.«
Es gab nichts mehr zu besprechen, und sie konnten nur noch warten. Anschließend hätten sie beide nicht mehr sagen können, wie lange sie schweigend dagesessen und gewartet hatten, zehn Minuten oder eine Stunde, bis sie den Polizeiwagen hörten und zur Haustür rannten.
Polizeichef Oddvar Grynning trug Harald höchstpersönlich den Kiesweg hinauf, oder zumindest ein schmutziges, blutiges Bündel, das Harald sein musste.
»Er lebt, soweit ich sehen kann, aber er ist übel zugerichtet.
Wir haben ihn auf einem Trümmergrundstück in der Olav Kyrres Gate gefunden«, teilte der Polizeichef mit, als er keuchend durch die Haustür trat. Ingeborg eilte voraus und zeigte ihm den Weg. Sie öffnete die Tür zur Praxis und deutete schweigend auf die grüne Pritsche.
Sie nahm ein Stethoskop und hörte den Brustkorb auf
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