Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Herztöne ab. Dann nickte sie Lauritz, der mit hilflos herabhängenden Armen auf der Schwelle verharrte, aufmunternd zu.
»Lauritz!«, befahl sie. »Ruf sofort Odd Eiken an und teile ihm mit, dass ich seine Hilfe brauche!«
»Lebt er?«, fragte Lauritz verzweifelt.
»Ja! Er lebt. Und er kann überleben. Tu jetzt einfach, was ich sage!«
»Wir dachten, da Sie selbst Ärztin sind, Frau Lauritzen …«, begann der Polizeichef.
»Danke, Herr Polizeidirektor. Sie haben alles richtig gemacht. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Schließen Sie bitte die Tür hinter sich!«
Die beiden Männer zogen sich fast eingeschüchtert zurück. Ingeborg schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Dies ist ein Patient mit tödlichen Verletzungen, dachte sie. Dies ist ein Patient, den ich wie alle anderen Patienten behandeln werde.
Sie holte eine große Schere und begann, dem Jungen die blutigen Kleider vom Körper zu schneiden. Er atmete unregelmäßig. Sowohl Blutdruck als auch Pulsfrequenz waren erhöht. Was darauf hindeutete, dass der Patient mit einer inneren Verletzung zu kämpfen hatte.
Der Patient stank nach Pferdemist. Alle offenen Stellen im Gesicht waren mit Pferdemist eingerieben worden.
Bakteriologische Kriegsführung, dachte Ingeborg. Beide Augen waren zugeschwollen. Der Patient konnte nichts sehen und war nicht bei Bewusstsein. Die Unterkühlung war stark, aber nicht kritisch. Als Erstes musste die Infektion bekämpft werden.
Sie begann mit dem völlig verschmutzten Gesicht. Nach der Misshandlung hatten sie ihn also mit Pferdeäpfeln abgerieben, wie Kinder das mit Schneebällen taten. Die Absicht war vermutlich nicht gewesen, eine tödliche Infektion hervorzurufen, sondern ihn zu demütigen.
Sie nahm das lauwarme Wasser, das sie bereits bereitgestellt hatte, einen Waschlappen und normale Seife und begann, das Gesicht des Patienten zu reinigen. Er stöhnte leise vor Schmerzen. Ein gutes Zeichen.
Nur das Gesicht hatte blutende Wunden. Der Rest des Körpers wies keine Stichverletzungen auf. Aber er war mit blauen Flecken übersät. Man hatte den Patienten, vermutlich als er bereits am Boden lag, immer wieder getreten. Sie strich mit den Händen über den zarten Knabenkörper, schloss die Augen und tastete. Keine großen Blutansammlungen in der Bauchhöhle, soweit sie erkennen konnte. Die Leber intakt. Wie es um die Milz stand, ließ sich nicht entscheiden, aber ein Riss in der Milz hätte einen dramatisch niedrigen Blutdruck zur Folge gehabt.
Ein zweiter Reinigungsdurchgang mit Alkohol, diesmal etwas fester. Die Bakterien im Pferdemist waren gefährlich.
Die Verletzung auf der einen Wange konnte von einem Messer herrühren, der Schnitt war gerade und wies gleichmäßige Wundränder auf. Der Pferdemist war regelrecht in die Wunde einmassiert worden.
Sie entfernte die letzten braunen Punkte mit einem Wattestäbchen
aus der Wunde. Dann machte sie eine Pause, öffnete das Fenster und warf die zerschnittenen, blutigen und rußigen Kleider hinaus. Dann schloss sie das Fenster wieder.
Der Patient lag nackt und sauber vor ihr auf dem Operationstisch. Die gereinigte Schnittwunde auf der Wange blutete stark, aber das war gut, eine Art innere Spülung vor dem Vernähen.
Odd Eiken stürzte mit wehendem Haar in die Praxis. Er trug bereits einen weißen Arztkittel und hatte ein Stethoskop um den Hals hängen. Er nickte Ingeborg zu und beugte sich dann sofort über den Patienten und fühlte seinen Puls.
»Schnell, aber nicht kritisch«, konstatierte er. »Und der Blutdruck?«
»Dasselbe. Hoch, aber nicht kritisch«, antwortete Ingeborg mechanisch.
»Innere Blutungen?«
»Ja, vermutlich, aber nicht lokalisiert.«
»Es ist das Auge«, sagte Ingeborgs Kollege, nachdem er eine Weile den nackten Körper des Patienten abgetastet hatte. »Der Druck im Auge ist gefährlich.«
Zu dieser Erkenntnis war sie auch schon gelangt. Das linke Auge des Patienten war vollkommen zugeschwollen. Die Schwellung war so groß wie ein Tennisball. Das Blut erzeugte einen solchen Druck, dass die Sehkraft gefährdet war. Sie müssen auf das linke Auge gezielt und immer wieder dorthin getreten haben.
»Sind wir uns hinsichtlich des Auges einig?«, fragte Odd Eiken.
»Ja. Wir müssen den Druck so schnell wie möglich senken«, erwiderte Ingeborg.
»Soll ich das tun, oder willst du?«, fragte er.
»Ich erledige das«, sagte sie, ging zum Dampfsterilisator und holte ein Skalpell.
»Setz den Schnitt in die Falte, dann ist die Narbe später
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