Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
sich in reißende, alles zerstörende Stromschnellen. Das war eine sehr lehrreiche Erkenntnis. Er fühlte sich an Herrn Dr. Fichte erinnert, der in seinen Vorlesungen in Mechanik immer betonte, das Geheimnis des Erfolges eines wahrhaften Ingenieurs und eben das, was ihn vom Durchschnitt unterscheide, seien Fantasie und Improvisation, also das, was einen die Praxis und nicht das Studium der physikalischen Gesetze lehre.
Jetzt konnte er also damit beginnen, die Betonfundamente der Brücken zu gießen, die sich über die launenhafte Zerstörungskraft des Wassers erheben sollten. Die fünfzig anstrengenden Tage, an denen er sich mehr wie eine nasse Katze denn wie ein deutscher Ingenieur im Dienste der Zivilisation gefühlt hatte, hatten sich gelohnt.
Damit hätte alles in bester Ordnung sein können, aber zur gleichen Zeit nahm der Albtraum seinen Anfang.
Zunächst waren die Ereignisse eher eigentümlich als erschreckend. In der zweiten regenfreien Nacht verschwanden zwei Swahili-Arbeiter aus dem Trupp, der für die Imprägnierung der Schwellen mit Kreosot zuständig war. Es schien keine natürliche Erklärung dafür zu geben. Man hatte aber gehört, dass die Engländer weiter im Norden beträchtliche Probleme mit desertierenden Arbeitern hatten, was begreiflich war, da die Engländer Barbaren waren, die Sklaven einsetzten, die sie aus Indien und anderen Kolonien in Asien importierten. In regelmäßigen Abständen wurden ganze Schiffsladungen dieser mageren, seekranken armen Teufel angeliefert. Er hatte selbst gesehen, wie eine solche Ladung in Mombasa gelöscht worden
war. Ein empörender Anblick! Überdies schienen die Engländer der Meinung zu sein, dass Chinin gegen Malaria sowie die Pockenimpfung nur etwas für Weiße war, da es ohnehin genügend Eingeborene gebe. Dass Arbeiter unter solchen Bedingungen um ihr Leben liefen, war nicht weiter erstaunlich.
Aber dieser Bahnabschnitt war deutsch und somit zivilisiert. Weshalb also sollte jemand von einer deutschen Baustelle desertieren? Drei Nächte hintereinander verschwanden Arbeiter aus dem Lager.
Auch den Eingeborenen war dies zunächst ein Rätsel, da man 236 Kilometer von Daressalam entfernt war und es außer den Gleisen, die sie selbst gebaut hatten, keinen Weg dorthin gab. Außerdem begann nur zwanzig Kilometer vom Lager entfernt eine Wüste ohne einen Tropfen Wasser. Die verschwundenen Männer hatten sich zudem den ihnen zustehenden Lohn nicht auszahlen lassen. Und ein 236 Kilometer langer Marsch auf Eisenbahnschwellen unter brennender Sonne, ohne Wasser und Proviant, erschien vollkommen unmöglich.
Daher war es nicht verwunderlich, dass die Eingeborenen, auch die getauften, rasch zu dem Schluss kamen, dass es sich um die Schandtaten böser Geister handelte.
Oscar musste sich widerstrebend eingestehen, dass ihm diese Art des Aberglaubens seiner Arbeiter eine noch größere Verantwortung aufbürdete. Er war wahrlich kein Missionar, obwohl er immer der Meinung gewesen war, dass diese eine großartige Arbeit leisteten, indem sie Licht ins Dunkel brachten. Sein Auftrag war jedoch, eine Eisenbahn und Brücken zu bauen und das Land dem Handel und der Verbreitung von Wissen zu öffnen, nicht die reine protestantische
Lehre zu verbreiten, an die er selbst nicht glaubte. Aber jetzt tangierten seine moralischen Verpflichtungen plötzlich doch die Theologie, da er die entsetzten Eingeborenen davon überzeugen musste, dass es keine bösen Geister gab. Vor allen Dingen musste er eine rationale Erklärung für das nächtliche Verschwinden der Arbeiter finden.
In einem der rasch austrocknenden Flussarme, der sich in eine Ansammlung grüner, schleimiger Tümpel verwandelt hatte, in denen gefangene Fische verzweifelt mit den Schwanzflossen schlugen, während ihnen die Fischadler aus den Bäumen an den Ufern genüsslich zuschauten, fand man die erste konkrete Spur. Einen blutigen, zerfetzten roten Fes und die Reste eines Armes.
Das machte das Ganze nicht leichter. Die Swahili vermuteten sofort Kannibalen, was für die Arbeitsmoral genauso verheerend war wie die Vorstellung von bösen Geistern.
Was Oscar anging, so zog er Kannibalen bösen Geistern vor. Sie waren ins Innere Tanganjikas vorgedrungen und hatten eine Gegend erreicht, in der es möglicherweise immer noch Kannibalen gab, obwohl die Verwaltung in Daressalam empört versichert hatte, diese Unsitte sei ausgerottet.
Kannibalen waren immerhin Menschen aus Fleisch und Blut, die man bekämpfen konnte. Im Lager gab
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