Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
schneebedeckten Gipfeln und den zugefrorenen Seen hatte er ihr Gesicht vor sich gesehen. Er dachte immer an sie, sehnte sich in jeder Sekunde nach ihr und sendete ihr tausend verbotene Küsse. So in etwa.
Er schrieb seinen Brief sehr sorgfältig und achtete darauf, die Konjunktive richtig zu verwenden, weil er trotz des sehr bodenständigen Umfelds, in dem er sich ab jetzt befand, eine gewisse Eleganz bewahren wollte.
Auf den Umschlag schrieb er Namen und Adresse ihrer besten Freundin Christa mit einem geheimen Zeichen, das die wirkliche Empfängerin verriet. Dann verschloss er den Umschlag und wischte die Schreibfeder ab.
Er legte sich aufs Bett und merkte erst jetzt, nachdem er alle Pflichten des ersten Tages in der Strafkolonie absolviert
hatte, dass ihm sämtliche Glieder wehtaten. Er hatte große Blasen an beiden Fersen, dazu einen so heftigen Muskelkater in den Oberschenkeln und Hüften, wie er es noch nie erlebt hatte.
Er zog ein paar Schafsfelle über sich und schlief ein und wachte von Geschirrgeklapper im Saal wieder auf. Spätnachmittagslicht fiel durch das kleine Fenster aus mundgeblasenem, trübem Glas. Dann fiel ihm ein, dass die Abende im Norden länger waren, es vermutlich auf sieben Uhr zuging und es Zeit zum Abendessen war.
Als er aus seinem Schlafzimmer kam, saß sein Kollege Daniel bereits am Tisch, auf dem eine dampfende Schüssel stand. Im Raum roch es stark nach Hammelfleisch.
»Setz dich und bedien dich, Lauritz«, sagte Daniel mit vollem Mund. »Die Zeit der Konserven ist endlich vorbei. Du hast dir also die richtige Jahreszeit ausgesucht, um hier raufzukommen.«
»Die Zeit der Konserven?«, sagte Lauritz erstaunt. »Ja, und des Stockfischs. Zwischen November und März gelangen keine Transporte zu uns herauf. Da kommt nur der Briefträger. Dann gibt es Konserven und getrockneten Fisch. Willst du ein Glas Wein, weil es der erste Abend ist?«
»Gibt es Wein?«, fragte Lauritz erstaunt.
Wenig später stellte Estrid eine Flasche auf den Tisch, auf der einfach nur Rotwein stand. Schweigend prosteten sie sich zu und aßen ebenfalls schweigend.
»Du bist nicht sonderlich gesprächig, Daniel, das kann man dir wirklich nicht vorwerfen«, meinte Lauritz schließlich. Etwas musste er ja sagen, um das Schweigen zu brechen, das ihn zunehmend störte.
»Nein«, erwiderte der andere zögernd, legte sein Besteck beiseite und schien nachzudenken. »So ist das hier oben«, fuhr er fort. »Man wohnt so lange unter einem Dach, bis man irgendwann alle Geschichten des anderen gehört hat. Die Arbeit ist auch recht eintönig, weil wir im Großen und Ganzen dauernd das Gleiche tun, darüber gibt es also auch nicht viel zu sagen. Und schließlich verstummt man. Ohne es selber zu merken, gleitet man gewissermaßen in die Stille hinein.«
»Aber ich bin doch gerade erst angekommen und kann dich mit meinen Geschichten noch nicht ermüdet haben!« , wandte Lauritz ein.
»Das stimmt.«
»Und ich bräuchte deinen Rat bei so einigem.«
»Das stimmt auch.«
»Und ich habe viele Fragen.«
»Das weiß ich. Die hatte ich auch, als ich neu war. Lass uns also dort ansetzen. Was willst du wissen?«
Lauritz aß ruhig weiter und dachte nach. Das Hammelgericht schmeckte wie in seiner Kindheit und erinnerte ihn an seine Mutter und das Sonntagsessen in der guten Stube.
»Zuerst zu meiner persönlichen Ausrüstung«, begann Lauritz energisch. »Was fehlt mir, was hätte ich mitbringen sollen?«
Der andere lächelte und schüttelte den Kopf. Dann holte er Luft und hielt einen Vortrag, der vermutlich aus mehr Wörtern bestand, als er im ganzen letzten Monat geäußert hatte, wenn man seiner Beschreibung der großen Fjellstille Glauben schenken wollte.
Eine Pelzmütze mit Ohrenklappen war gut zu gebrauchen,
wenn im Winter der Nordwestwind wehte. Die Mütze, die Lauritz bei seiner Ankunft getragen hatte, würde sich dann ausgezeichnet bewähren. Jetzt jedoch konnte er sie beiseitelegen, jetzt bräuchte er einen Hut mit breiter Krempe als Augenschutz und eine Sonnenbrille, natürlich. Mit Schneeblindheit war nicht zu spaßen. Viele Arbeiter, die im Frühjahr heraufkamen, insbesondere in der Zeit von März bis Ende Mai, die weißer Frühling hieß, besaßen keine Sonnenbrille. Sie lagen dann oft wochenlang mit verbundenen Augen und starken Schmerzen in der Krankenbaracke.
Das seien für den Anfang die wichtigsten Dinge, die sich am einfachsten besorgen ließen, denn man könne sie in den Läden der Eisenbahngesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher