Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
antwortete, das Missionshotel sei vielleicht wegen des strikten Verbots nächtlicher Besuche auf den Zimmern nicht das richtige Quartier für einen Bahnarbeiter. Als er sie fragte, woher sie wüsste, dass er beim Eisenbahnbau arbeite, starrte sie auf ihr Pult. Er versicherte ihr, er habe weder vor, sich zu betrinken, noch, auf dem Zimmer nächtlichen Besuch zu empfangen.
Vor dem Spiegel im Friseursalon wurde ihm dann alles klar. Er sah aus wie ein Wilder. Sein Haar reichte bis zu den Schultern, der Bart war ebenso struppig wie der von Johan Svenske, und das wenige, was von seinem Gesicht zu sehen war, war braun wie Leder. Er sah aus wie ein Bahnarbeiter,
der in die Stadt gekommen war, um seinen Lohn zu vertrinken.
Anderthalb Stunden waren nötig, um ihn wieder in einen Diplomingenieur zu verwandeln, zumindest was Kurzhaarschnitt und Schnurrbart betraf. Vermutlich wirkte der Kontrast seiner rotbraunen Nase und der Wangen zu seiner bleichen, jetzt vom Bart befreiten unteren Gesichtshälfte etwas seltsam.
Er ging in die Stadt, um sich einzukleiden, da er seine Mutter nicht in abgetragenen Arbeitskleidern aufsuchen wollte. Er war noch nicht weit gegangen, da schmerzten ihn schon die Waden und Fußsohlen. Zuerst begriff er gar nichts, zwei Jahre lang hatte er alle Schmerzen nach dem Skifahren niedergekämpft. Ski fahren machte ihm mittlerweile nichts mehr aus, auch nicht die letzte 70-Kilometer-Tour von Finse nach Voss. Dann sah er ein, dass er in den letzten zwei Jahren meist Ski gelaufen, aber nur sehr wenig gegangen war, wie man in Städten oder in der Ebene ging. Er war das Spazierengehen einfach nicht mehr gewohnt.
Das Einkleiden ging besser. Sein kurzes Haar, sein frisch gewichster Schnurrbart und seine Haltung sprachen eine deutliche Sprache. Er benahm sich, als sei er wieder in Dresden, und wurde sehr zuvorkommend bedient.
Auch der Einkauf einer Reisetasche, so hieß das inzwischen, bereitete keine Schwierigkeiten.
Er aß in einem Restaurant zu Abend, da im Missionshotel in der Strandgaten kein Wein zum Essen serviert wurde. Zu seinem Schweinebraten mit knusprig gebratener Schwarte trank er eine Flasche Rheinwein und träumte still von Ingeborg und Deutschland.
Trotzdem schlief er in dieser Nacht schlecht. Er war unruhig wegen der Begegnung mit seiner Mutter. Sein Besuch vorvorige Weihnachten war eine Enttäuschung gewesen. Für seine Mutter war Weihnachten kein Fest der Freude, sondern eine Zeit strikten Schweigens. Bebend und mit gesenktem Blick hatten sie der Geburt des Erlösers geharrt und über die Ewigkeit nachgedacht. Etwas, das eigentlich besser zum Osterfest passte. Er konnte sich nicht erinnern, dass es in seiner Kindheit an Weihnachten so zugegangen war. Sie waren arm gewesen, allerdings nicht so arm wie ihre Nachbarn, aber sie hatten Weihnachten nie mit niedergeschlagenen Augen gefeiert und nur geflüstert.
Wie es wohl jetzt Anfang Juni, zum Pfingstfest, der Zeit der religiösen Verzückung, zu Hause auf Osterøya war?
Er schlief trotz des Weins sehr spät ein, aber das machte nichts, weil das Schiff erst mittags fuhr. Trotzdem erwachte er früh.
Spazieren gehen konnte er nicht, da er vom gestrigen Herumlaufen einen fürchterlichen Muskelkater bekommen hatte. Er hatte nichts zu lesen und kein Schreibzeug dabei. Die Zeit nach dem üppigen Frühstück mit Grütze, Eiern und Speck versuchte er sich dadurch zu vertreiben, dass er mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett lag und ab und zu seinen Schnurrbart zwirbelte. Seine Gedanken schweiften zwischen Kindheitserinnerungen auf Osterøya und Dresden hin und her, Fahrten zum Fischen mit Vater und Onkel Sverre, sein erster Besuch des Marktes in der großen Stadt Bergen, aber jeder zweite Gedanke galt Ingeborg.
Das Dampfschiff nach Osterøya legte genau um zwölf Uhr von der Tyskebryggen ab.
Es rührte ihn merkwürdig an, das Dampfschiff Ole Bull wiederzusehen. Es kam ihm so vor, als wäre es geschrumpft. Er hatte es bedeutend größer in Erinnerung. Als er sah, wie sich die deutschen Touristen im Erste-Klasse-Salon breitmachten, löste er eine Fahrkarte für eine Deckspassage, obwohl er zweifellos wie ein Erste-Klasse-Passagier gekleidet war. Aber er hatte das Gefühl, nicht dazuzugehören, jedenfalls nicht hier und jetzt auf der Ole Bull auf dem Weg nach Tyssebotn. Außerdem war ausnahmsweise gutes Wetter, da konnte es geradezu angenehm sein, in dem lauen Sommerwind draußen zu sitzen. Damit war er mittlerweile nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher