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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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eigentlichen Bogen über den Abgrund zu bauen.
    »Du musst eins wissen, Lauritz«, sagte Johan Svenske, als sie sich verabschiedeten. »Das ist verdammt noch mal die beschissenste Arbeit auf der ganzen Strecke. Und die beste. Sie ist einfach grandios.«
    Als Lauritz anschließend über das Eis zum »Bahnhof Finse«, wie er bereits im Scherz genannt wurde, hinunterschlitterte, grübelte er über das nach, was Johan Svenske zuletzt gesagt hatte. Grandios. Das stimmte natürlich. Aber es war die Wortwahl eines gebildeten Mannes, ein Wort, wie er selbst es hätte gebrauchen können. Aus Johans Mund klang es verkehrt, obwohl es so treffend war.
    Wenn Johan durch Zufall nach Dresden geraten wäre, so wie er und sein Bruder Oscar? Und wenn er und sein Bruder Oscar als Bahnarbeiter gearbeitet hätten, statt in einer Seilerei anzufangen, wären die Rollen dann vertauscht gewesen?
    Ja, zweifellos.
    Die Männer in den Baracken waren Sozialisten. Seit zwei Jahren demonstrierten sie am 1. Mai. Sie sangen Kampflieder und ließen Agitatoren Reden halten. Das war vollkommen in Ordnung, solange es die Arbeit nicht störte. Hingegen störte es ihn, dass sich die Demonstrationen gegen die Ingenieursbaracke richteten, weil sonst weit und breit kein Klassenfeind zu finden war. Lauritz gefiel es nicht, als Klassenfeind betrachtet zu werden. Dummerweise hatte er versucht, mit einem der Agitatoren darüber zu diskutieren, jedoch den Zeitpunkt schlecht gewählt.
    Das Schneeräumen war im Gang, die meisten Baracken waren instand gesetzt, Kohle war genug da, und die Transportpferde brachten endlich Lebensmittel, Fleisch, Käse, Brot und sogar Whisky und Branntwein.

    Anfang Juni machte sich Lauritz auf den Weg. Er hatte Schneematsch unter den Skiern und sank zwanzig Zentimeter ein, trotz der breiten Hickory-Skier. Es war eine
beschwerliche Tour, aber wenn er wegwollte, war dies die einzige Gelegenheit, da Johan Svenske, sein neuer Arbeitertrupp und die Köchin sich frühestens in einer Woche zum Kleivefossen auf den Weg machen würden.
    Dem Eis war um diese Jahreszeit nicht mehr zu trauen, es hatte hier und da große graue Flecken. Er umging die Gewässer also, so gut es ging.
    Unten im Moldaadalen musste er die Skier abschnallen und auf der Schulter tragen. Dasselbe im Raundalen. Aber da er mit leichtem Gepäck reiste, war das kein großes Problem.
    Er deponierte seine Skier im Kontor in Voss und löste eine Fahrkarte nach Bergen. Diesmal hatte seine Reise bislang vierundzwanzig Stunden gedauert, und er hatte auf dem Fjell übernachtet. Das hätte er im Leben nicht geschafft, als er seinen Dienst als Ingenieur bei der Bergenbahn angetreten hatte.
    Es war ein nur schwer erklärbares, schwindelerregendes Gefühl, den Zug nach Bergen zu nehmen. Das würde auch irgendwann einmal oben im Fjell möglich sein. Obwohl die Unterschiede in der Natur so groß waren, dass man sich in verschiedenen Welten wähnte. Recht bald war der Schnee verschwunden, und der Zug dampfte durch eine grüne Landschaft. Auch hier waren die Hänge weiß, allerdings von blühenden Apfelbäumen. Kinder badeten in einem kleinen Tümpel und bespritzten sich mit Wasser. Kühe weideten auf den Wiesen.
    Als er an dem unordentlichen und offenbar provisorischen Bahnhof in Bergen ausstieg, war sein erster Gedanke, dass dieser den Fahrgästen, die eines Tages die erste Fahrt von Kristiania hierher unternehmen würden, einen viel zu
kläglichen Empfang bot. Er hegte nach wie vor den Traum, einmal einen neuen Hauptbahnhof in Bergen zu bauen.
    Sein nächster Gedanke war, dass eine Ewigkeit vergangen war, seit er hier die Kathedralschule besucht hatte. Es gab so viel Neues. Straßenbahnen rumpelten wild klingelnd vorbei und vertrieben die Fußgänger. Er sah zwei Automobile, und die Gehsteige wurden neuerdings wie in jeder anderen anständigen europäischen Stadt von Gaslaternen beleuchtet. Es war wie damals, als er von Osterøya in die große Stadt gekommen war. Nachdem er Berlin gesehen und fünf Jahre in Dresden gelebt hatte, hatte er geglaubt, er würde in ein Dorf zurückkehren. Aber Bergen war kein Dorf mehr. Das 20. Jahrhundert war wahrhaftig das Jahrhundert der großen, nein der enormen Entwicklungen.
    Er hatte schriftlich ein Zimmer im Missionshotel bestellt, in dessen Erdgeschoss sich ein Friseursalon befand. Die junge Frau am Empfang zögerte, als er seinen Namen nannte und um den Schlüssel bat. Als er fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, errötete sie, schaute zu Boden und

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