Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
sehen.
»Du hast ebenfalls Tracht angelegt, Mutter. Sind das die neuen Sitten hier in der Gegend?«, sagte er schließlich und sah ein, dass er schon wieder eine sehr einfältige Frage gestellt hatte.
»Ja«, erwiderte sie. »Seit drei Tagen ziehe ich mich vor dem Eintreffen des Dampfers um, ich wusste schließlich nicht, wann genau du vom Fjell kommst. Auf Osterøya tragen wir immer diese Kleider, wenn jemand, der lange fort war, zurückkehrt. Und jetzt, wo die anderen fort sind, bist du der Mann in diesem Haus.«
Sie sagte nichts mehr, sondern bedeutete ihm nur mit der Hand, er solle eintreten. Auf dem Tisch standen eine funkelnde Kupferkanne mit Kaffee und ein sehr großer Teller Gebäck.
Er hatte eine Frau vor sich, die – anders gekleidet als in der Nordhordlandtracht – in der Semperoper in Dresden sehr elegant gewirkt hätte. Er bemerkte ihren Wohlstand, die sechs silbernen Hakenverschlüsse an ihrer grünen Weste, die vermutlich den Jahresverdienst eines Fischers gekostet hatten. Dazu trug sie einen silberdurchwirkten Gürtel mit zwei bestickten Zipfeln, die über die gestreifte Schürze herabhingen und zu erkennen gaben, dass sie eine verheiratete Frau war. Die sternförmige Perlenstickerei unter ihrem Busen ließ ebenfalls ihren Wohlstand erkennen. Ihr kupferrotes Haar unter der weißen Haube war von einigen silbernen Strähnen durchzogen. Sie war fünfundvierzig Jahre alt, und es gab sicherlich viele Männer, die sie gerne geehelicht hätten.
Sie hatte einen jungen, kräftigen Mann in den Kleidern
eines Städters vor sich, mit dem Haarschnitt und Schnurrbart eines Bergener Bürgers, einen Mann, den das Schicksal nicht zum Fischer bestimmt hatte, sondern zu etwas Größerem in der Welt, genau wie sie es damals befürchtet hatte, als sie gekommen waren, um ihr ihre Jungen wegzunehmen. So war es gekommen, zwei waren verschwunden. Er war der eine verlorene Sohn, der zurückgekehrt war.
Sie goss ihm Kaffee ein und schob ihm schweigend den Teller mit dem Gebäck zu.
»Erzähl!«, befahl sie dann. »Erzähl mir von der Bergenbahn. Davon ist hier ja viel die Rede. Manche Leute behaupten, es sei unmöglich, eine solche Eisenbahn zu bauen. Aber du, der du diese Bahn baust, musst es doch wissen.«
Er war heilfroh, dass die Unterhaltung an diesem Ende begann, und verlor sich fast in dramatischen Details über Schneestürme und einstürzende Tunneldecken, bevor er seinen Bericht halbwegs in eine Ordnung gebracht hatte. Für jemanden, der vom Frøynes Gård stammte, sprach er lange, aber soweit er es sah, hörte ihm seine Mutter die ganze Zeit aufmerksam und interessiert zu. Er schloss mit der Prognose, dass er in vier Jahren ein freier Mann sein würde, vielleicht schon früher, das hinge von den Wettergöttern ab. Vier Jahre, dann habe er seine Schuld zurückgezahlt. Und auch die von Oscar und Sverre.
Sofort bereute er den Schluss seines Berichts. Damit hatte er das eigentliche Thema angeschnitten.
»Was war mit Oscar? Warum ist er nicht mitgekommen?« , fragte seine Mutter wie erwartet und schenkte ihm Kaffee nach. Obwohl die Kanne schwer war, blieb ihre Hand ganz ruhig. Ihre Miene verriet nichts als stille, mütterliche Liebe. Aber die einfache Frage, der er am vergangenen
Weihnachtsfest ausgewichen war, war für ihn nur mit unerträglichen Schwierigkeiten zu beantworten.
»Oscar ist vor der Welt geflohen, weil seine große Liebe ihn verraten hat. Das hat ihn sehr getroffen. Ich kann ihm diese Flucht verzeihen, sein langes Schweigen aber nicht«, antwortete Lauritz.
»Lebt Oscar, und wo, glaubst du, lebt er?«, fragte sie.
»Er lebt, das spüre ich. Ich glaube, er ist in Afrika, um sich in den Kolonien ein neues Leben aufzubauen und den Eingeborenen dabei zu helfen, so zu werden wie wir. Viele Studenten in Dresden hatten diesen Plan. Oscar gehörte auch dazu«, antwortete Lauritz.
Sie nickte nachdenklich, als sei das, obgleich er den Bruder und die Bergenbahn im Stich gelassen hatte, nicht ganz so schlimm.
»Und Sverre?«, fragte sie tonlos.
Das war die Frage, die er am meisten von allen gefürchtet hatte. Er konnte seine eigene Mutter nicht anlügen. Die Wahrheit konnte er ihr aber auch nicht sagen.
»Sverre …«, begann er unsicher, »Sverre wurde ebenfalls von einer Art Liebeskummer heimgesucht, der schwere soziale Konsequenzen hat …«
Soziale Konsequenzen? Was für eine idiotische Formulierung.
»Also er … Es gab so etwas wie einen Skandal und, ja. Er reiste jedenfalls nach London. Und
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