Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Verantwortliche der Eisenbahngesellschaft war mit sechs Gefangenen in die Hauptstadt zurückgekehrt, worüber natürlich überall gesprochen wurde. Mit einem normalen, diskreten »Vogelbegräbnis« im Busch wäre das Problem viel einfacher gelöst gewesen.
Aber daran war nachträglich nichts mehr zu ändern. Jetzt waren die Gefangenen in Dar, und die Sache musste
ihren Lauf nehmen. Ein funktionierendes Rechtssystem gehörte zu den wichtigsten Veränderungen, die die deutsche Verwaltung im Protektorat einführen wollte. Ein solches zivilisatorisches Prinzip durfte nicht einfach geopfert werden.
Trotz guter Vorsätze und gründlicher Vorbereitungen nahm der Prozess einen enttäuschenden Anfang. Der Vorsitzende, Dr. Goldmann, fand es unakzeptabel, dass die Übersetzung von Kinandi ins Deutsche nicht funktionierte. Die Angeklagten schienen den Inhalt der Anklage nicht zu verstehen und konnten deswegen die Frage nicht beantworten, ob sie das, was ihnen zur Last gelegt wurde, akzeptierten oder abstritten. Die Verhandlung wurde um drei Tage verschoben, damit die Dolmetscherfrage gelöst werden konnte.
Oscar war nicht wohl in seiner Haut, als er sich zur Wiederaufnahme der Vorstellung begab. Er hielt die Verhandlung nicht für einen richtigen Prozess, sondern für ein Schauspiel fürs Publikum.
Der Ausgang war seines Erachtens von vornherein entschieden. Die Wartezeit in Dar war außerdem außerordentlich einförmig gewesen. Er hatte versucht, sich einen Teil der Zeit in seinem neuen Büro zu vertreiben, aber der Chef vor Ort, Mohamadali Karimjee Jiwanjee, befand sich geschäftlich auf Sansibar, und deswegen ließen sich ohnehin keine wichtigen Entscheidungen treffen. Um den Deutschen Club machte er weitestgehend einen Bogen, dort wollten ihn allzu viele Leute zu einem Bier oder Schnaps einladen und ihn wie eine Trophäe an ihrem Tisch festhalten. Er war es gründlich leid, immer nur über Löwen und Kannibalen zu sprechen.
Vergeblich hatte er den Staatsanwalt, Hauptmann Eberhardt Schmid, aufgesucht. Er wollte eine schriftliche Zeugenaussage einreichen, statt den Prozess abzuwarten. Der Staatsanwalt hatte gemeint, er verstehe seine Ungeduld, könne schriftliche Zeugenaussagen jedoch nicht akzeptieren. Die Rechtssicherheit lasse ein solches Prozedere nicht zu. Er müsse seine Zeugenaussage vor dem hohen Gericht machen und es der Verteidigung gestatten, dem einzigen Zeugen der Staatsanwaltschaft Fragen zu stellen.
Schließlich war es so weit. Man trat im großen Saal des Clubhauses, der zum Gerichtssaal ummöbliert worden war, zusammen. Es gab ungewöhnlich viele Plätze für das Publikum, das von nah und fern gekommen war, um echte Kannibalen zu sehen.
Diese sahen jedoch nicht besonders merkwürdig aus, fand Oscar. Sie wurden zwei und zwei in Fußketten, die nur kurze Schritte gestatteten, und zur Wahrung des Anstands in grauer Sträflingskleidung hereingeführt. Einem Gericht konnte man keine nackten Krieger vorführen.
Oscar trug eine Kolonialuniform aus dickem grauen Stoff, Koppel und einen zu engen Kragen. Die Dezemberhitze war unerträglich, die Ventilatoren an der Decke waren wirkungslos, und er sehnte sich intensiv nach dem Busch, wo er sich zumindest hätte nützlich machen können. Außerdem konnte er dort bedeutend bequemere Kleidung tragen.
Er saß ganz hinten und betrachtete die sechs Gefangenen. Ihre Gesichter waren unbeweglich. Was sie dachten, war nicht zu erkennen.
Mit den Ketten um die Fußgelenke sahen sie aus wie Sklaven, dachte Oscar. In Afrika gab es immer noch ausreichend
Fußketten für Sklaven. In diesen Ketten wurden sie aus dem Hinterland an die Küste geführt und hatten dabei manchmal noch Elefantenstoßzähne, die bis zu sechzig Pfund wogen, auf den Schultern tragen müssen. Eine Ware trug die andere Ware. Vor weniger als zwanzig Jahren waren solche Transporte noch ein alltäglicher Anblick in Dar gewesen. Jetzt fanden diese widerwärtigen Eisenketten wieder Verwendung, allerdings im Dienste der Zivilisation und des deutschen Rechts.
Staatsanwalt Hauptmann Schmid begann mit der Verlesung der Anklageschrift. Oscar hörte nicht sehr aufmerksam zu, da er wusste, was gesagt werden würde. Daher überraschte es ihn, als er bereits nach wenigen Minuten nach vorn zitiert wurde.
Verlegen wischte er sich den Schweiß von der Stirn, ging nach vorn und verbeugte sich vor dem hohen Gericht. Wahrscheinlich war er rot geworden, was hoffentlich wegen seiner tiefen Sonnenbräune nicht zu sehen war.
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