Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
… ja, also nach London. Das ist alles, was ich weiß.«
Sie sah ihn ruhig und ungerührt an und sagte dann etwas höchst Unerwartetes.
»Ich weiß alles über Sverre. Du musst ihn seiner eigenen Mutter gegenüber nicht besser machen, als er ist. Er hat
mir geschrieben und mir alles gestanden. Darüber habe ich sehr viel nachgegrübelt.«
»Worüber hast du nachgegrübelt?«, fragte Lauritz leise und schaute zu Boden.
»Über diese Abart. Er ist einer von uns, dasselbe Fleisch und Blut. Warum wurde er so? Warum zieht er Gottes ewiges Strafgericht auf sich? Warum nicht du? Oder ich?«
»Frauen können nicht … das musst du verstehen …«, wandte er ein.
»Doch!«, fiel sie ihm ins Wort. »Auch Frauen kann dieser Fluch heimsuchen. Ich weiß das. Ich habe das schon erlebt. Ganz in der Nähe.«
»Ich verstehe«, erwiderte Lauritz, obwohl er überhaupt nichts verstand.
»Die Liebe ist eine Naturgewalt«, fuhr seine Mutter langsam fort. »Eine größere Kraft als alles, was ich kenne. Dein Vater lebt noch immer in mir. Nachts träume ich von seinen Umarmungen. Die Liebe ist der Vernunft nicht zugänglich. Auch nicht irgendwelchen sozialen Konsequenzen. Wir wollen hoffen, dass Sverre sein Glück zumindest in diesem Erdendasein gefunden hat. Auch wenn ich ihm nicht verzeihen kann.«
Sie schwiegen eine Weile. Aber das Gespräch war noch nicht vorbei, das war Lauritz vollkommen klar.
»Und du?«, fragte seine Mutter schließlich.
Er konnte sich nicht dumm stellen. Die Reihe war jetzt an ihm, über sich und seine Liebe Auskunft zu geben. Davon war nicht leicht zu erzählen, aber zumindest leichter als von den fürchterlichen Dingen, die Sverre betrafen.
Es handelte sich trotz allem um eine bekannte nordische Saga, die so war wie viele andere Sagas, eine Geschichte,
die die meisten Menschen auf Osterøya kannten und mit der sie mitempfinden konnten, einschließlich seiner Mutter.
Der junge Held von geringer Geburt. Seine geliebte Ingeborg. Der strenge Patriarch, ihr Vater, der eine solche Ehe nicht billigte. Zwei junge Menschen, die sich ewige Liebe schworen. Der junge Held, der sich aufs Meer begab und … Ungefähr an dieser Stelle befanden sie sich jetzt in der Saga von Ingeborg und Lauritz.
Seine Geschichte war schnell erzählt. Er war erstaunt, dass Mutter Maren Kristine immer strahlender lächelte, während er durch seine Liebesgeschichte galoppierte: heimliche Stelldicheins in der Oper in Dresden und sogar der erste Kuss. Sie lächelte und nickte, fast so, als würde sie sich selbst wiedererkennen.
»Das wird sich klären«, sagte sie. »Wenn ihr euch so liebt, wie du sagst, dann wird sich alles klären. Falls du dich irrst, werdet ihr im Leben getrennte Wege gehen, aber dann ist kein großer Schaden entstanden. Also wird es sich klären. Die Liebe ist größer als alles.«
Sie hatte in wenigen Worten das zusammengefasst, worüber er den größten Teil seiner wachen Zeit nachgrübelte. Die Liebe war größer als alles. Und die Liebe von Ingeborg und ihm war die wahre Liebe. Deswegen waren sie unbesiegbar. Er zweifelte genauso wenig an Ingeborg wie an sich selbst.
»Wir werden heute Abend ein Willkommensfest veranstalten«, sagte seine Mutter in einem ganz anderen, sachlicheren Ton, als sei jetzt alles gesagt, was hatte gesagt werden müssen. »Die Cousinen und Mutter Aagot kommen zu uns. Wir tragen alle Tracht. Du kannst entweder
die Kleider anziehen, die du jetzt trägst, oder Vaters Tracht, ich habe sie ausgebessert.«
»Ich werde mit Ehrfurcht und Stolz Vaters Tracht tragen«, antwortete er mit heiserer Stimme.
»Das ist gut. Hast du in deinem Koffer deine Arbeitskleidung dabei? Was du anhast, ist ja neu. Es gibt hier nämlich für einen geschickten Burschen viel zu tun. Und sogar für einen Diplomingenieur aus Dresden.«
X
OSCAR
Daressalam, Dezember 1902
Gottfried Goldmann war den größten Teil seines Lebens Professor für Straf-und Verfahrensrecht an der Universität Heidelberg gewesen. Er war als Emeritus nach Deutsch-Ostafrika gegangen, um seine letzten Lebensjahre dem großen Projekt, der Verbreitung der Zivilisation in Afrika, zu widmen.
Zweifellos war er der begabteste Jurist in Daressalam, es war also kein Zufall, dass Generalgouverneur Schnee ihn zum Vorsitzenden des Gerichts ernannt hatte, das die Kannibalen aburteilen sollte. In der Verwaltungsbürokratie war die Sache eingehend diskutiert worden, und man war zu dem Schluss gekommen, dass ein Prozess unvermeidlich war.
Der
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