Die Brueder Karamasow
mich!«
Aber Iwan antwortete nicht mehr. Aljoscha blieb so lange unter der Laterne an der Straßenkreuzung stehen, bis Iwan ganz in der Dunkelheit verschwunden war. Dann drehte er sich um und ging durch die Seitengasse langsam zu seiner Wohnung. Er und Iwan Fjodorowitsch wohnten für sich, in verschiedenen Wohnungen; keiner von ihnen hatte in dem leeren Haus von Fjodor Pawlowitsch bleiben mögen. Aljoscha hatte ein möbliertes Zimmer bei einer Kleinbürgerfamilie gemietet, und Iwan Fjodorowitsch wohnte, ziemlich weit von ihm, in einer geräumigen, recht komfortablen Wohnung im Seitenflügel eines schönen Hauses, das einer wohlhabenden Beamtenwitwe gehörte. Zu seiner Bedienung hatte er in dem ganzen Seitenflügel nur eine völlig taube alte Frau, die stark an Rheuma litt und sich um sechs Uhr abends hinlegte und um sechs Uhr morgens aufstand. Er war in diesen zwei Monaten erstaunlich anspruchslos geworden und war am liebsten ganz allein. Er räumte sogar das Zimmer, das er benutzte, selbst auf; in die übrigen Zimmer seiner Wohnung kam er überhaupt nur selten. Als Iwan am Tor seines Hauses angelangt war und schon den Klingelgriff berührte, hielt er auf einmal inne. Er fühlte, daß er vor Wut noch immer am ganzen Körper zitterte. Plötzlich ließ er die Klingel wieder los, spuckte aus, drehte sich um und ging schnell zum entgegengesetzten Ende der Stadt, etwa zwei Werst von seiner Wohnung entfernt, zu einem winzigen, schiefen Häuschen aus unverschalten Balken, in dem Marja Kondratjewna wohnte, die ehemalige Nachbarin Fjodor Pawlowitschs, die früher oft in dessen Küche gekommen war, um Suppe zu holen, und der damals Smerdjakow seine Lieder zur Gitarre vorgesungen hatte. Ihr früheres Häuschen hatte sie verkauft, und sie wohnte jetzt mit ihrer Mutter in dieser Hütte; der sterbenskranke Smerdjakow war gleich nach Fjodor Pawlowitschs Tod zu ihnen gezogen. Smerdjakow war es, zu dem sich Iwan Fjodorowitsch jetzt begab, getrieben von einem unvermittelten, unabweisbaren Gedanken.
6.
Erster Besuch bei Smerdjakow
Eigentlich war es seit seiner Rückkehr aus Moskau schon das drittemal, daß Iwan Fjodorowitsch zu Smerdjakow ging, um mit ihm zu sprechen. Zum erstenmal nach der Katastrophe hatte er ihn gleich am Tag seiner Ankunft gesehen und gesprochen; dann hatte er ihn noch einmal, zwei Wochen später, besucht. Doch nach diesem zweiten Treffen stellte er seine Besuche bei Smerdjakow ein; er hatte ihn jetzt schon über einen Monat nicht mehr gesehen und fast nichts von ihm gehört. Aus Moskau war Iwan Fjodorowitsch damals erst am fünften Tag nach dem Tod seines Vaters zurückgekehrt, so daß er dessen Sarg nicht mehr vorfand. Die Beerdigung hatte einen Tag vor seiner Ankunft stattgefunden. Iwan Fjodorowitschs Verspätung entstand dadurch, daß Aljoscha seine Moskauer Adresse nicht genau wußte und erst Katerina Iwanowna befragen mußte, um ein Telegramm absenden zu können, diese nun, ebenfalls in Unkenntnis der richtigen Adresse, telegrafierte an ihre Schwester und ihre Tante, da sie annahm, Iwan Fjodorowitsch hätte ihnen gleich nach seiner Ankunft in Moskau einen Besuch gemacht. Aber er war erst am vierten Tag nach seiner Ankunft zu ihnen gekommen und dann, nachdem er das Telegramm gelesen hatte, natürlich sogleich in unsere Stadt geeilt. Hier war er zuerst mit Aljoscha zusammengetroffen. Nach dem Gespräch mit ihm hatte er sich sehr darüber gewundert, daß Aljoscha nicht einmal einen Verdacht auf Mitja werfen wollte, sondern Smerdjakow als den Mörder bezeichnete, was im schroffen Gegensatz zur Meinung aller anderen Leute in unserer Stadt stand. Nachdem er dann vom Bezirkshauptmann und vom Staatsanwalt nähere Einzelheiten über die Beschuldigung und die Verhaftung gehört hatte, hatte er über Aljoscha noch mehr gestaunt und seine Ansicht nur auf Brudergefühl und Mitleid für Mitja zurückgeführt, denn daß Aljoscha diesen sehr liebte, wußte Iwan. Bei dieser Gelegenheit gleich ein paar Worte über Iwans Gefühle für seinen Bruder Dmitri Fjodorowitsch. Er liebte ihn ganz und gar nicht und hatte höchstens manchmal mit ihm Mitleid; aber auch dieses Mitleid war mit starker Verachtung gemischt, die bis zum Ekel reichte. Mitja war ihm höchst unsympathisch, schon durch sein Äußeres. Für Katerina Iwanownas Liebe zu ihm hatte Iwan nur Entrüstung übrig. Dennoch hatte er den in Untersuchungshaft befindlichen Mitja ebenfalls gleich am Tag seiner Ankunft besucht, und dieses Zusammensein hatte bei ihm die
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