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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Fraktionen gespalten, die Pazifisten gegen die Befürworter des Krieges. Die Zeitungen hatten die Letzteren freudig dazu aufgefordert, ihre Meinung kundzutun. Am unrühmlichsten hatte sich Rudyard Kipling hervorgetan.
    Für einen charmanten Autor von Kinder- und Jugendbüchern besaß Kipling eine erstaunlich lange Liste von Hassobjekten: Deutsche, Demokratie, Steuern, Gewerkschaften, Bergarbeiter, Iren, indische Nationalisten, selbstverständlich Pazifisten, Frauen und Sozialisten. Im Jahr zuvor war ihm neben den üblichen Argumenten gegen das Frauenwahlrecht wie Größe des Gehirns und Neigung der Frau ein weiteres eingefallen. Da die Frauen gemäß ihrer Natur dazu neigten, sich für den Frieden einzusetzen, könne man ihnen natürlich nicht das Wahlrecht gewähren, weil das die Teilnahme Englands am »Großen Krieg« gegen die »Hunnen« gefährden könnte. »Hunnen« war sein neuestes Wort, das er in der englischen Sprache zu etablieren suchte und mit dem er die Deutschen meinte, gegen die der mehr als alles andere erwünschte »Große Krieg« geführt werden sollte.
    Damals, vor genau einem Jahr, als Albie und Sverre die Vorstellung »Nachmittag eines Fauns« der Ballets Russes verlassen hatten, war die Stimmung schrecklich düster gewesen. Ganz England schien sich auf einen Krieg mit Deutschland eingestellt zu haben. Jetzt wirkte dieser Aktivismus wie weggeblasen. Politiker und Journalisten beschäftigten sich nur noch mit dem Thema Irland.
    An diesem Maitag war das Wetter außerdem viel besser als im Jahr zuvor, ein milder Vorsommer, windstill, die Obstbäume blühten. Die bedrohlichen Wolken am Horizont waren verschwunden. Der Himmel leuchtete rosa-­golden.
    Sie waren unter sich und hatten soeben der Premiere eines Kunstwerkes beigewohnt, das auf ewig weiterleben würde. Das Leben konnte kaum besser sein.
    Albie vertrat die Ansicht, dass es nicht Strawinskys Musik gewesen sein könne, die einen Teil des Publikums so in Aufregung versetzt habe. Sie sei nicht atonal oder mit fremden Elementen durchsetzt gewesen. Sie habe zwischen Dur und Moll gewechselt und sei vermutlich in der russischen Volksmusik verwurzelt. Nur die Tempi und die Phrasierungen seien geändert worden. Dass die Tänzer barfuß aufgetreten waren und in der Opferszene mit den Fersen gestampft hatten, entspräche ja auch nur der Erzählung. Wenn die Tänzerinnen stattdessen einen klas­sischen Spitzentanz mit Pirouetten vollführt hätten, hätte dies auf provozierende Weise lächerlich gewirkt. Die unbegreif­liche Angst der kunsthassenden Kunstliebhaber vor neuen Ausdrucksformen war faszinierend. Wovor fürchteten sie sich eigentlich? Oder: Was erzürnte sie so sehr, dass sie sich deswegen sogar nach einer Ballettaufführung prü­gelten?
    Sverre stimmte ihm zu, hier verbarg sich ein höchst rätselhafter menschlicher Defekt. Man müsse sich nur die Ausstellung »Manet und die Post-Impressionisten« von vor einigen Jahren in Erinnerung rufen. Da habe die Wut, zumindest jene der konservativen Kunstkritiker, keine Grenzen gekannt. Vielleicht bestehe ja das Problem darin, dass so strikt zwischen Künstlern und Kunstkritikern unterschieden werde. Letztere seien als Geschmacksrichter tätig, fällten in den Zeitungen ihr Urteil und formten so den anerkannten guten Geschmack. Die Zeitung lesende Mittelklasse unterwerfe sich diesem Urteil wie allem anderen, was von der Obrigkeit ausgegeben werde. Folglich sei alles, was man nicht kenne und was von der Times nicht sanktioniert worden sei, schlechte Kunst. Wie van Gogh oder in letzter Zeit auch Matisse.
    Nein, es ließ sich eigentlich nicht ergründen, vielleicht war es einfach unbegreiflich. Schlimmstenfalls war es eine englische Erscheinung, weil es geradezu einem Landesverrat gleichkam, Gemälde von Cézanne auszustellen. Denn damit, so hieß es, ergreife man für Deutschland Partei. Kurz gesagt war die englische, Kunst beurteilende Obrigkeit verrückt. Vielleicht war es ja angezeigt, aktiven Widerstand zu leisten?
    Albie wurde misstrauisch, weil er glaubte, Sverre wolle damit sagen, dass sich die Kunst direkt in die Politik einmischen solle. In dieser Hinsicht gab er jedoch keinen Zoll nach. Diese Bastion würde er erst als letzte aufgeben.
    Sverre versuchte seine Ansichten darzulegen, wobei er Albies Einwände bereits ahnte. Während der letzten fürchterlichen Jahre, in denen die englische Obrigkeit die Kriegstrommeln rührte, habe das Innenministerium sowohl bildende Künstler als auch

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