Die Brut
Maßstab?«
Zwischen ihren Haaren sah Tessa einen zweiten Weißkittel auftauchen. Es musste die grauhaarige Frau sein, die die ganze Zeit stumm am Tisch vor dem Fenster gesessen hatte.
»Es hilft uns, wenn wir genau festhalten können, welche Maße die Wunde hat.« Und in Richtung des zweiten Weißkittels fuhr er fort. »Machen Sie bitte Aufnahmen von allen vier Seiten und eine direkt von oben auf die Wunde.«
Tessa spürte das kalte Metall an ihrem Schädel, die Blitze der Kamera.
»Prima. Das haben Sie geschafft.«
Sie hob wieder den Kopf.
Der Rechtsmediziner legte den schwarz-weißen Zollstock beiseite, holte einen Drehhocker herbei, setzte sich und rollte an die Behandlungsliege, auf der Tessa saß, heran. »Als Nächstes möchte ich mir Ihre Hautabschürfungen anschauen.« Er hob ihr Kinn mit zwei Fingern an und drehte es leicht zur Seite. Die Wunde an der Stirn war verkrustet. »Haben Sie sich da früher schon verletzt?«
»Ja«, sagte Tessa zögernd. »Ich habe mit Victor gespielt. Auf dem Küchenboden. Dabei habe ich mir die Stirn aufgeschlagen.«
Der Rechtsmediziner nickte verständnisvoll. »Können Sie sich erinnern, wie Sie im Wald gestürzt sind?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin ja sofort ohnmächtig gewesen. Aber ich muss wohl nach vorn gefallen sein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Gesicht im Dreck.« Ihre Stimme begann zu zittern.
»Schon gut.« Der Rechtsmediziner legte eine Hand auf ihre. »Sie sind sehr tapfer.« Er gab ihr ein Taschentuch, damit sie die Tränen, die über ihr Gesicht liefen, wegwischen konnte.
»So. Jetzt schaue ich mir nur noch Ihre Arme und Beine an, dann sind Sie erlöst.« Sanft drehte er erst ihren rechten, dann ihren linken Arm, als ob sie aus chinesischem Porzellan wären.
»Beidseits an den handgelenksnahen Anteilen der Handinnenflächen jeweils circa zwei mal vier Zentimeter große, unscharf begrenzte, nicht mehr ganz frische, oberflächliche Schürfungen, die insgesamt etwas verschmutzt sind«, diktierte er in sein Gerät. »Sie hatten beim Joggen kurze Hosen an?«
»Ja.« Noch immer liefen Tessa einzelne Tränen übers Gesicht.
»Könnten Sie bitte die Beine frei machen?«
Sie beugte sich nach vorn, um ihre Hosenbeine hochzurollen.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Jeans ganz auszuziehen? Wenn Sie kurze Hosen anhatten, gehen die Schürfungen sicher bis zum Oberschenkel hinauf.«
»Ich glaube, ich habe mir nur ein wenig das Knie aufgeschlagen«, sagte sie und schaute den Rechtsmediziner an. Er war keiner, der scharf darauf war, eine berühmte Frau in Unterhosen zu sehen. Er wollte einfach nur seinen Job machen. Sie ruschte von der Behandlungsliege herunter und knöpfte ihre Jeans auf.
»Können Sie sich bitte auf den Rücken legen? Danke.« Er beugte sich über sie und betrachtete ihre Beine, eins nach dem anderen, ohne sie zu berühren.
»Frau Breitner«, sagte er zu der Frau, die wieder am Fenster saß. »Ich hätte gern noch Aufnahmen von den Beinen.«
Mit einem Ruck hatte Tessa sich aufgesetzt und die Beine angezogen. »Nein.« Zu heftig hatte sie das Wort hervorgestoßen, sie errötete ein wenig. »Nicht, dass ich Ihnen misstraue, aber Sie werden begreifen, dass mir nicht wohl ist bei dem Gedanken, dass irgendwo Fotos von meinen nackten Beinen herumschwirren.«
»Ich kann Ihnen garantieren, dass die Fotos nicht in falsche Hände geraten.«
»Trotzdem. Es wäre mir lieber, wenn wir keine Fotos machen würden.«
Der Rechtsmediziner schaute Kommissar Kramer an, der immer noch neben der Tür lehnte. Als dieser nickte, griff er abermals nach dem Diktiergerät. »Knapp unterhalb der linken Kniescheibe eine kleine, etwas ältere, oberflächliche Schürfung. Im Übrigen an den Beinen wie auch den sauberen Füßen keine frischen Verletzungen.« Er lächelte Tessa aufmunternd zu. »Gut, dann können Sie sich wieder anziehen.«
»Reichen Sie mir den Bericht der Sanitäter, die die Erstbehandlung gemacht haben, nach?«, fragte er den Kommissar.
»Haben Sie heute Nachmittag auf dem Tisch.«
»Danke. Hat Sie eigentlich mein Gutachten zu dem Schädelfund inzwischen erreicht? Ihre Sekretärin hat mich gestern Abend noch angerufen und gesagt, dass da wohl irgendetwas nicht angekommen ist.«
Tessa knöpfte ihre Hosen zu, während die beiden Männer weiter etwas besprachen, das sie nichts anging. Sie hatte es überstanden. Ohne Komplikationen. Bei dem Zahnarzt, der in der Kleinstadt ihre Milchzähne behandelt hatte, hatte sie stets in die
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