Die Brut
knipsen begonnen. Aus dem Augenwinkel sah Tessa, wie die vier Beamten, die vor ihrem Haus gestanden hatten, angerannt kamen. Zwei von ihnen packten den Fotografen rechts und links und zerrten ihn vom Wagen weg.
»Laßt euch den Namen geben«, rief Kommissar Kramer ihnen zu. Zu dem Festgehaltenen: »Sie erhalten ein Platzverbot.« Und zu den restlichen Fotografen: »Das Gleiche gilt für Sie, wenn Sie nicht sofort die Kameras wegtun.«
Vorsichtig ließ er den Wagen anrollen. »Es tut mir Leid, dass so etwas passiert ist. Aber das Gelände hier ist einfach extrem unübersichtlich. Und mehr als vier Leute kann ich für die Bewachung beim besten Willen nicht abziehen.«
»Schon in Ordnung. Ich bin das gewohnt«, sagte Tessa und rückte die Handtasche auf ihrem Schoß zurecht.
»Muss schlimm sein, ständig diese Meute an den Fersen zu haben.«
»Es gehört halt dazu. Berufsrisiko«, sagte Tessa. Sie glaubte gesehen zu haben, wie der Kommissar leicht gelächelt hatte. Er schaute in den Rückspiegel. Auch Tessa blickte über die Schulter.
»Wenigstens haben wir sie abgehängt«, sagte sie.
»Sie hätten es bestimmt schicker gefunden, wenn ich versucht hätte, den Jungs mit quietschenden Reifen davonzufahren.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich dachte, die Leute erwarten immer, dass ein Kommissar wie ein Formel-1-Pilot fährt.«
Gegen ihren Willen musste Tessa lächeln.
»Wir haben den Stock gefunden, mit dem der Täter Sie vermutlich angegriffen hat«, sagte der Kommissar plötzlich.
»Wirklich?«
»Es sieht leider nicht so aus, als ob sich irgendwelche brauchbaren Spuren darauf befänden. – In Sachen Fingerabdrücke ist auf einem Stock leider nie was zu holen, dafür ist die Oberfläche zu rau. An den DNA-Spuren sind unsere Techniker noch dran.«
Tessa nickte.
»Dafür haben unsere Leute auf dem Buggy einige Fingerabdrücke entdeckt«, sagte er, wie um sie zu beruhigen. »Wir sind gerade dabei, Ihre und die von Ihren Bekannten auszuschließen.« In zwanzig Meter Entfernung sprang eine Ampel auf Gelb, der Kommissar bremste.
»Haben Sie inzwischen Passanten gefunden, die etwas gesehen haben?«, fragte Tessa.
»Wir haben heute Morgen ganz früh Plakate geklebt. Es ist schon merkwürdig, dass sich bislang noch niemand gemeldet hat. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man ein weinendes Kind mehrere Kilometer durch einen Park tragen kann, ohne dass jemandem etwas auffällt.«
»Es war einfach noch so früh am Morgen.« Tessa schaute auf die Straße. Ein gelber Sportwagen kam aus einer Seitenstraße geschossen. »Vielleicht hat der Entführer Victor betäubt.«
»Vielleicht.« Der Kommissar warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Fühlen Sie sich imstande, bei der Belohnung etwas draufzulegen? Von unserer Seite können wir nur die mageren dreitausend Euro anbieten, die in so einem Fall vorgesehen sind.«
»Bestimmt geht das. Ich muss mit Sebastian reden. Das meiste Geld, das ich verdient habe, steckt in der Wohnung. Aber wir können sicher einen Kredit aufnehmen.«
Der Kommissar bremste, um den blauen Kleinwagen vor ihnen ausparken zu lassen.
»Es ist ein schlechtes Zeichen, dass sich der Entführer immer noch nicht gemeldet hat«, sagte Tessa, als sie an der nächsten Ampel hielten, »nicht wahr?«
»Ich hoffe, dass wir morgen etwas in der Post haben.«
»Morgen? Wieso nicht heute?«
»Die Post von heute sind wir im Sortierzentrum schon durchgegangen. Sowohl die an Ihre Privatadresse als auch die an den Sender und Ihre Redaktion. Nichts.« Er zeigte auf die Tüte, die er vorhin auf die Rückbank, neben den Kindersitz, gelegt hatte. »Die Sachen, die direkt an Sie waren, habe ich Ihnen mitgebracht.«
Es waren etwas mehr als zehn Briefe, längliche Kuverts, Rechnungen, eine Einladungspostkarte, ein größerer brauner Umschlag. Alles sorgfältig geöffnet.
»Ich weiß, das ist nicht angenehm, aber ich garantiere Ihnen, dass Sie meinen Leuten vertrauen können.«
Tessa sagte nichts. Ein Frösteln lief über ihre Unterarme.
Ihre erste Verliebtheit fiel ihr wieder ein. Ein Junge aus der Nachbarklasse. Beim Unterstufenfest am letzten Tag vor den Sommerferien war es passiert. Erst hatten sie getanzt, am Schluss hatten sie sich auf der Bank hinter der großen Eibe zwei Sekunden geküsst. Am nächsten Tag war Tessa mit ihrer Familie an die Adria gefahren. Jeden Morgen war sie als Erste aufgestanden, um zu dem Mann an der Rezeption zu laufen und
Post, per favore?
zu fragen. Fast jeden Morgen hatte ihr
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