Die Brut
gestern nicht allein ins Krankenhaus fahren dürfen. Sebastian ließ man unbehelligt ziehen.
Ohne es zu merken, hatte sie sich die nächste Zigarette angesteckt. Wenn das hier alles durchgestanden war, würde sie Sebastian zur Rede stellen. Vielleicht sollten sie in eine andere Stadt ziehen. Raus aufs Land. Sebastian musste ihr versprechen, dass er nie wieder einen Film mit Feli machen würde. Obwohl es noch so früh war, bauten sich im Süden schwarze Gewittertürme auf. Tessa drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher aus, der auf der Brüstung stand.
»Ganz schön schwül hier draußen.«
Tessa erschrak. Sie hatte nicht gehört, wie der Kommissar auf die Dachterrasse herausgekommen war.
»Ja. Ich glaube, es regnet bald.«
Der Kommissar trat an die Brüstung. Er beugte sich ein Stück nach vorn und schaute hinunter. »Als Jugendlicher war ich vollkommen schwindelfrei. Erst mit dreißig hat das angefangen. Aber dann ist es von Jahr zu Jahr schlimmer geworden.« Er trat von dem Geländer zurück und klopfte sich ein wenig Staub vom Hemd. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass die ehemalige Lebensgefährtin Ihres Mannes Kontakt zu Victor hatte?«
»Was?«
»Sie haben Frau Dembruch auf Ihrer Liste vergessen.«
»Carola? Auf welcher Liste?«
»Die Liste, die Sie uns gegeben haben. Mit denjenigen, die Umgang mit dem Buggy hatten.«
»Carola hatte keinen Umgang mit dem Buggy.«
Der Kommissar strich sich über den Schnurrbart und lächelte. »Könnte ich vielleicht eine Zigarette schnorren? Eigentlich habe ich ja aufgehört –« Er zuckte die Achseln.
Tessa hielt ihm die Schachtel hin, starrte ihn an. »Was meinen Sie damit, dass Carola Umgang mit dem Buggy hatte?«
»Wir haben Fingerabdrücke von Frau Dembruch gefunden.«
»Sie haben Fingerabdrücke von Frau Dembruch gefunden?« Tessa wiederholte den Satz, als sei sie in einem Sprachlabor.
»Entschuldigung, könnten Sie mir auch noch Feuer –«
Mechanisch hielt sie dem Kommissar ihr Feuerzeug hin. Arndt Kramers Hand berührte ihre, als er sich über die Flamme beugte. Die Polizei hatte auf Victors Babyjogger Fingerabdrücke von Carola gefunden. Sebastian hatte eine unerfreuliche SMS erhalten. Sebastian war aus dem Haus gestürmt.
»Aber dann«, sagte Tessa, und die Notwendigkeit der Schlussfolgerung blendete sie stärker als die Sonne, die langsam hinter einem Gewitterturm verschwand, »dann hat Carola Victor entführt?«
Lichtsplitter tanzten vor ihren Augen. Die Welt war wieder im Lot.
Es war die Ex!
Endlich! Zwei Tage, nachdem der kleine Victor entführt wurde, ist es der Polizei gelungen, die Frau zu finden, die der berühmten Talkmasterin die schlimmsten Stunden ihres Lebens bereitet hat: Carola Dembruch, die Ex von Tessa Simons Ehemann! Unter Tränen gestand die Schauspielerin, dass sie das neue Glück ihres ehemaligen Lebensgefährten nicht mehr ertragen hatte. In den fünfzehn Jahren, die sie mit dem berühmten Schauspieler zusammen gewesen war, hatte sie sich immer Kinder gewünscht. Daher hatte sie das Gefühl, einen viel größeren Anspruch auf Victor zu haben als Sebastians neue Frau.
Tessa schüttelte sich, als erwache sie aus einer Trance.
»Victor
muss
bei Carola sein«, sagte sie langsam. »Und – mein Gott«, sie fasste sich mit beiden Händen an die Stirn, »in dem Frühjahr, als ich mit Victor schwanger war, gab es merkwürdige Anrufe nachts. Der Anrufer hat nie etwas gesagt, nur einmal hat er
Du Schlampe
gezischt. Und da habe ich geglaubt, Carolas Stimme zu erkennen. – Warum stehen Sie hier noch herum?«, fuhr sie den Kommissar plötzlich an. »Warum sind Sie nicht längst bei Carola?«
Arndt Kramer nahm den letzten Zug von seiner Zigarette. Als er sich Tessa zuwandte, lag in seinem Gesicht noch immer das Bedauern des Mannes, der soeben gemerkt hat, um welchen Genuss er sich in all den Wochen der Enthaltsamkeit gebracht hat. »Wir wollten das fürs Erste Ihrem Mann überlassen. Aber keine Sorge, ein paar von unseren Leuten schauen nach ihm.«
Tessa machte einen halben Schritt zurück. »Woher wissen Sie, dass Sebastian –«
Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass die blassgrünen Augen des Kommissars mit bernsteinfarbenen Punkten gesprenkelt waren.
»Die richterliche Anordnung besagt, dass wir alle Gespräche, die in Ihrer Wohnung ankommen oder aus Ihrer Wohung nach draußen gehen, aufzeichnen müssen. Ich kann da leider keine Ausnahme machen.«
»Aber Sie haben Sebastian versprochen, dass er privat telefonieren kann«,
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