Die Brut
Weihnachtsmarkt geschlendert, hatten Glühwein getrunken und Baumschmuck aus Holz gekauft. Über die Vorzüge des Engels mit dem Sternenstab vor dem Engel mit der Trompete zu streiten, hatte gereicht, sie für Stunden glücklich zu machen.
Die nächste Nadel fiel mit leisem Geräusch herunter.
Victor schien eingeschlafen zu sein. Tessa wollte ihn gerade in den Stubenwagen legen, da fing er wieder zu weinen an. Vielleicht sollte sie es mit
Hoppe-Reiter
versuchen. Als Sebastian letztes Wochenende den
Hoppe-Reiter
gemacht hatte, hatte Victor vor Freude gekräht und war keine drei Minuten später glücklich erschöpft eingeschlafen.
Tessa ging zum Sofa zurück und setzte Victor auf ihren Schoß.
Hoppe, hoppe Reiter,
wenn er fällt, dann schreit er,
fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben,
fällt er in den Sumpf,
macht der Reiter plumps.
Sie hatte ihn nicht tief plumpsen lassen. Zehn Zentimeter. Höchstens.
In der leeren Wohnung schien sein Schreien das Lauteste zu sein, was sie jemals gehört hatte. »Sshhhh …« Tessa drückte ihn sofort an sich. »Es ist ja nichts passiert … Sshhh … Mama hat dich ganz fest gehalten … Nicht weinen …« Sie griff nach dem Butzebär, der auf dem Sofa lag. »Victor. Vic. Schau mal. Wo ist der Butzebär? Wo ist der Butzebär?« Mit der freien Hand hielt sie den Teddy hinter ihrem Rücken versteckt und ließ ihn nur ganz kurz hervorblinzeln. Normalerweise prustete Victor vor Freude, wenn sie
Wo-ist-der-Butzebär?
mit ihm spielte. Jetzt presste er die Augen fest zusammen und schrie noch lauter. »Vic … Sshhh … Das mit dem Reiter machen wir nie wieder … Versprochen … Ein blödes Spiel … Ein ganz blödes Spiel …« Es mussten die Zähne sein. Unmöglich konnte der kleine Schreck von eben ausreichen, dass er sich dermaßen die Seele wund schrie. Draußen schneite es noch heftiger. Dicke Watte lag auf den Fensterbrettern.
Plötzlich fiel ihr die Uhr in Sebastians Arbeitszimmer ein. Warum hatte sie nicht sofort daran gedacht? Die Art-déco-Uhr und ihr Ticken hatten es Victor angetan. Tatsächlich beruhigte er sich sofort, als sie mit ihm das Arbeitszimmer betrat, die Uhr vorn an die Schreibtischkante rückte und ihn ganz dicht an sie heranhielt. Bevor zwanzig Sekunden herum waren, lächelte er wieder. Wenige Augenblicke später war er eingeschlafen. Das Gesicht so entspannt, als hätte er den ganzen Abend auf einer grünen Wiese gelegen.
Mein Aprilkind
, flüsterte Tessa und trug ihn ins Bett.
Im ersten Moment glaubte sie, Victor hätte wieder zu weinen begonnen. Dann hörte sie, dass es das schnurlose Telefon war. Sie sprang auf und ging in Richtung Esstisch, von wo das Klingeln kam.
»Hallo?«
»Hast du schon geschlafen?«
»Ach. Du bist’s«, sagte sie erleichtert. »Ich muss auf dem Sofa eingenickt sein.«
»Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung. Victor schläft ganz brav. Und bei dir?«
»Ich bin froh, wenn ich wieder bei euch bin. Das Publikum hier ist so was von zäh.«
»Das tut mir Leid.« Tessa merkte jetzt erst, dass ihr linker Fuß eingeschlafen war. Sie setzte sich auf einen der Esstischstühle und begann ihn zu massieren. »Schneit’s bei euch auch so heftig? Hier hat’s den ganzen Abend geschneit.«
»Der reinste Schneesturm. Hoffentlich bleibt meine Maschine morgen nicht stecken.«
»Das wird sie nicht. Das verbiete ich ihr.«
»Gib Victor einen Kuss von mir.«
»Mach ich. Ich vermiss dich so.«
»Ich euch auch.«
»Schlaf schön.«
»Schlaf schön. Bis morgen.« Hinkend, der linke Fuß war immer noch nicht aufgewacht, ging Tessa in die Küche. Auf dem Tisch stand die Rotweinflasche, die sie mit Sebastian am Abend vor seiner Abreise nicht ganz ausgetrunken hatte. Als sie zur Vitrine ging, um sich ein Glas zu holen, wurde ihr bewusst, dass es das erste Mal war, dass Sebastian Victor und sie vier Tage allein ließ. Sie zog den Korken heraus und schnupperte daran. Vielleicht war es noch ein bisschen länger her, dass sie diese Flasche geöffnet hatten. Im Weinschrank lagen vierzig andere, die sie aufmachen konnte, dennoch schenkte sie sich den muffigen Rest ein.
Der Schneeball traf sie mitten ins Gesicht, Schnee rieselte in den weiten Kragen ihres Kaschmirrollis. Sie schrie, lachte, das Gesicht so leuchtend wie seit Wochen nicht mehr, griff mit beiden Händen in den Pulverschnee,
na warte!
, rannte auf Sebastian zu, er riss die Hände hoch, um sich zu verteidigen, sie änderte die Taktik, bückte sich, kitzelte seine
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