Die Buchmagier: Roman (German Edition)
die Geschichte.
Eine Stunde später kam Lena aus dem Haus heraus und gab mir eine verwelkte, geschwärzte Blume. »Sie ist wieder in demselben Zustand, in dem sie war. Soweit Margie sich erinnert, hatte sie nur einen Sohn. Sie ist fuchsteufelswild auf dich, weiß aber nicht genau, warum.«
»Ich glaube, ich weiß, was ihrem anderen Sohn widerfahren ist.« Ich machte einen Knick in die Ecke der Seite, die ich gerade las, und blätterte zu einem früheren Kapitel zurück. »Hör dir das mal an. Es handelt von den Ereignissen, unmittelbar nachdem Jakob Hoffman das erste Mal einem Vampir begegnet.«
*
Die Worte des Hauptmanns waren wie Fliegen, die in den Ställen zu Hause schwirrten. Disziplin und Ausbildung zwangen Jakob zu antworten. »Ja, Sir!« »Nein, ich habe nichts gesehen, Sir!« »Ich weiß nicht, Sir!«
Aber er hatte etwas gesehen. Er verstand bloß einfach nicht, was er da gesehen hatte. Noch nicht.
Als Erster war der Gefreite Sterling gestorben, ein Bursche mit Kindergesicht, frisch aus den Staaten. Strahlende Augen, keine Stoppeln am Kinn – Jakob war sich wie ein alter Mann neben ihm vorgekommen. Er erinnerte sich daran, dass Sterling ›Halt, wer da?‹ hinausgerufen hatte, obwohl er selbst niemanden hatte sehen können.
»Du regst dich wegen Gespenstern auf, Mikey!«, hänselte Jakob ihn. Aber Mikey bestand darauf, dass da draußen jemand war. Er ließ das Gewehr von der Schulter gleiten und entfernte sich, um nachzusehen.
Jakob schloss die Augen. Mikey war doch noch ein Kind. Die anderen Soldaten sollten eigentlich ein Auge auf die Neuen haben und sie aus Schwierigkeiten heraushalten. Das war seine Aufgabe, und er hatte versagt.
Er erinnerte sich daran, dass er eine Bewegung hinter dem Zaun sah, der die Grenze ihres zeitweiligen Stützpunkts markierte. An Stacheldraht, der wie Gitarrensaiten riss. An Mikeys Schrei, abgewürgt so schnell, wie er begonnen hatte. Jakob hob die Waffe, aber ehe er auch nur einen einzigen Schritt gemacht hatte, war Mikey verschwunden, zusammen mit der Person – oder der Kreatur –, die ihn entführt hatte.
Und dann war die Hölle ausgebrochen.
*
»Du meinst, Vampire haben Huberts Bruder getötet?«, fragte Lena.
»Es gibt noch mehr davon.« Ich blätterte weiter. »Sechzig Seiten später geht Jakob zurück, um seinen Hauptmann zur Rede zu stellen.«
*
» Sie haben es gewusst!« Noch nie war Jakob so nahe daran gewesen, einen vorgesetzten Offizier körperlich anzugreifen, aber selbst jetzt zwang ihn die Disziplin, ein widerwilliges »Sir!« hinzuzufügen.
Hauptmann Nichols sagte kein Wort. Er stand einfach da, das dunkelhäutige Gesicht eine steinerne Maske. Das Schweigen zog sich in die Länge, bis Jakob es nicht mehr aushielt.
»Nun?«, rief er. »Sie wussten doch, dass diese Dinger, diese Vampire da draußen waren! Sie wussten, wogegen wir kämpften! Warum haben Sie uns nicht gewarnt, Sir? Warum schicken wir keine Patrouillen mit M2s raus, um diese Scheißkerle abzufackeln?«
»Hauptgefreiter Hoffman, wollen Sie andeuten, dass Sie diesen Krieg besser als Ihre Vorgesetzten führen könnten?«
Jakob versteifte sich. »Nein, Sir! Ich will andeuten, dass, wenn man den Leuten die Wahrheit sagen würde, wir diese Befehle besser ausführen könnten! Dass, wenn wir gewarnt worden wären, Mikey noch am Leben sein könnte, Sir!«
Nichols gab keine Antwort. Das brauchte er auch nicht. Nichts, was er sagen konnte, würde es rechtfertigen, Männer unvorbereitet rauszuschicken. Diese Männer waren Jakobs Brüder, und sie starben durch die Hände deutscher Monster. Nichts, was Nichols sagte, konnte das rechtfertigen. Nichts vermochte Mikey zurückzubringen.
*
Lena betrachtete das Haus. »Charles sah etwas an dem Tag, als sein Bruder verschwand, aber er wusste nicht, was. Erst Jahre später war er in der Lage, die Teile zusammenzufügen; nachdem er die Pförtner entdeckt und die Wahrheit herausgefunden hatte.«
»Nachdem er herausgefunden hatte, was wir vor der Welt geheim halten«, sagte ich. »Er gibt den Pförtnern die Schuld am Tod seines Bruders, also hetzt er uns jetzt zur Strafe Vampire auf den Hals.«
Sie rieb sich über die Arme. »Margie hat gesagt, Charles war nie wieder der Alte, nachdem er aus Afghanistan heimgekommen war. Die Ärzte versuchten verschiedene Therapien, aber er halluzinierte weiter. Er wachte schreiend auf und fing an, Zeichen von Verfolgungswahn zu zeigen. Sie hielten es für ein posttraumatisches Belastungssyndrom. Seine Erinnerungen
Weitere Kostenlose Bücher