Die Buchmalerin
einfallen, was es gewesen war.
Der mächtige Hengst schnaubte unruhig, als der Diener den Pferch betrat, so als würde er dessen Anspannung spüren. Léon vergewisserte sich, dass das Tier ordentlich gestriegelt und die Hufe sauber waren. Auch die Futtermenge, die sich in der Raufe befand, war richtig bemessen. Heu, mit einem gewissen Anteil an Hafer, jedoch nicht zu viel davon. Als Léon den dämmrigen Stall verließ und wieder auf den sonnenbeschienenen Hof zurückkehrte, stieg eine vage Erinnerung in seinem Gedächtnis auf. Das Mahl in der Basilika … Er war sich gewiss, dass das, wonach er suchte, auf irgendeine Weise mit dem Mahl zusammenhing. Geistesabwesend blieb er stehen und starrte vor sich hin. Linden, Heide … Der Fetzen eines Liedes zog durch seine Gedanken. Aber noch ehe er das, was er sich vergegenwärtigen wollte, fassen konnte, war es ihm auch schon wieder entglitten. Ärgerlich über seine Begriffsstutzigkeit schüttelte er den Kopf.
Ganz in der Nähe standen einige junge Bedienstete aus Enzios Tross. Sie schwatzten und lachten und einer von ihnen formte einen Schneeball und warf damit nach einer Magd, die mit einem Packen Tüchern auf den Armen aus einem Gebäude trat. Léon wies die Diener schroff zurecht und lief weiter in Richtung der Räume, die der Kardinal bewohnte. Er hatte fast den Eingang des steinernen Hauses erreicht, als er zwischen schmutzigen Schneeklumpen und Stroh etwas Buntes am Boden liegen sah. Irritiert bückte er sich danach. Es war ein buntes Band, wie es Spielleute an ihrer Kleidung trugen. Wieder tauchte der Liedfetzen in seinem Gedächtnis auf.
Die Spielmannsgruppe, die während des Mahls musiziert und die der Kardinal beim letzten Speisegang zu sich auf das Podium befohlen hatte … Diese Sache, die wichtig war und die er dennoch nicht greifen konnte – sie musste damit zusammenhängen. Die Musikanten waren auf das Podium gekommen … Darunter die Frau, die sein Herr später, auf dem nächtlichen Hof, zu sich gewinkt hatte … Sie war mager und klein gewesen und beim Gehen hatte sie ein wenig den Fuß nachgezogen. Jetzt erinnerte er sich, dass sie ihm schon einmal, zu Beginn des Abends, aufgefallen war. Aber, um alles in der Welt, warum? Erneut zermarterte er sich seinen Kopf.
Plötzlich sah Léon das Dorf vor sich, in dem die Frau und der Mann, nach denen sie suchten, ein Maultier gekauft hatten. Unwillig wollte er die Erinnerung beiseite schieben. Doch im nächsten Moment begriff er. Was hatte der Bauer gesagt? Die Frau habe eine Verletzung am Fuß gehabt? Die beiden waren in Richtung Süden gezogen. Es war nicht möglich, und doch …
Es dauerte nicht lange, bis Léon den Bediensteten gefunden hatte, der die Spielleute am vorigen Abend in den Saal geführt und ihnen ihren Platz zugewiesen hatte. Der Diener aus dem Haushalt des Königs war sich nicht sicher. Aber er glaubte, dass jene Musikanten in einem Haus in der Nähe des Doms untergekommen waren.
*
Mittlerweile waren Roger und Donata in eine breite Straße gelangt, die stattliche Häuser säumten. Am Ende der Straße erhoben sich die geschwärzten Mauern des alten römischen Baus. Soldaten bewachten das Stadttor daneben. Wenn sie nur schon hindurch wären … Roger zwang sich, nicht zu schnell zu laufen, während er auf die Geräusche in ihrem Rücken achtete. Auch Donata schien zu horchen, wie ihm ihre angespannte Miene verriet. Obwohl sie hinkte und obwohl ihr der verletzte Fuß immer noch Schmerzen bereiten musste, hielt sie mit ihm Schritt.
Sie überholten einen Mann, der ein fettes, schmutziges Schwein an einer Leine hinter sich herzerrte, und Frauen, die gefüllte Körbe bei sich trugen. Sie mussten so schnell wie möglich den Umkreis der Stadt verlassen. Ein Pferd … Oder besser noch ein Boot … Roger nahm das Kreuz wahr, das auf dem steinernen Turm des römischen Gebäudes in den Himmel ragte – eine Kirche war in ihm errichtet worden. Das Kreuz zeichnete sich dunkel vor der Sonne ab. Plötzlich wurde ihm klar, dass er das uralte Bauwerk anstarrte, als könnten sie allein dadurch, dass er es mit Blicken bannte, schneller dorthin gelangen.
Riesengroß erhob es sich jetzt neben ihnen. Sie hatten das Stadttor erreicht, waren auf einer Höhe mit den Wächtern, waren an ihnen vorbei. Schattiges Dämmerlicht schlug ihnen in dem gewölbten Durchgang entgegen. Die Waffen der Soldaten auf der anderen Seite des Tores glänzten im Schein der Wintersonne. Roger musste sich einer Beklemmung erwehren.
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