Die Bücher und das Paradies
die
Lenin verraten hatte, die KPI, die die Revolution verraten
hatte, und – zuletzt – das christdemokratische Establish-
ment. Doch obwohl Amerika als Machtapparat und als
Modell der kapitalistischen Gesellschaft der Feind war,
gab es eine Haltung des Wiederentdeckens und Wieder-
eroberns gegenüber Amerika als Volk, als melting pot
rebellierender Rassen. Die Achtundsechziger hatten nicht
mehr das Bild des marxistischen Amerikaners der
dreißiger Jahre im Kopf, den Mann der Lincoln-Brigaden
im Spanischen Bürgerkrieg, den premature anti-fascist , der die Partisan Review las. Sie sahen eher ein
labyrinthisches Gelände, auf dem sich die Gegensätze
zwischen alt und jung, weiß und schwarz, Neuein-
wanderern und alteingesessenen ethnischen Gruppen,
schweigenden Mehrheiten und laut durcheinander-
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schreienden Minderheiten engstens miteinander ver-
quickten. Sie fanden keinen wesentlichen Unterschied
zwischen Kennedy und Nixon, aber sie identifizierten sich
mit dem Campus von Berkeley, mit Angela Davis, mit
Joan Baez und dem frühen Bob Dylan.
Es ist schwierig, das Wesen ihres Mythos Amerika zu
definieren; in gewisser Weise benutzten und recycelten sie
Teile der amerikanischen Realität – die Puertoricaner, die
Underground-Kultur, den Zen, nicht mehr die Comics,
sondern die Comix, also nicht mehr Mio Mao (Felix the
Cat), sondern Fritz the Kat, nicht mehr Walt Disney,
sondern Crumbs. Sie liebten Charlie Brown, Humphrey
Bogart, John Cage. Ich zeichne hier nicht das Profil einer
bestimmten politischen Bewegung zwischen 1968 und
1977. Vielleicht mache ich eher eine Röntgenaufnahme,
um etwas zu entdecken, was unter der maoistischen,
leninistischen oder guevaristischen Oberfläche weiter-
lebte. Und ich weiß, daß es dieses Etwas wirklich gab,
denn 1977 und danach ist es explodiert. Die Studenten-
revolte jener Jahre ähnelte eher einer Revolte im
schwarzen Ghetto als der Einnahme des Winterpalasts.
Und ich habe sogar den Verdacht, daß das heimliche
Vorbild der Roten Brigaden, natürlich unbewußt, die
Manson Family ist.
Von der heutigen Generation kann ich naturgemäß nicht
mit der gleichen olympischen Distanz wie von jener der
dreißiger Jahre sprechen. Ich versuche lediglich, in den
Wirren der Gegenwart das Modell eines mythischen
Bildes von Amerika zu entdecken. Eines Bildes, das
erfunden ist wie die vorausgegangenen und erzeugt durch
Kreolisierung.
Amerika ist kein Traum mehr, denn man kann es heute
für wenig Geld via Icelandic Airways erreichen.
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Der neue Roberto war vielleicht 1968 Mitglied einer
marxistisch-leninistischen Gruppe, hat 1970 ein paar
Molotowcocktails auf ein amerikanisches Konsulat
geworfen, 1972 ein paar Pflastersteine auf die Polizei und
1977 in die Schaufenster einer kommunistischen Buch-
handlung. 1978, nach erfolgreichem Kampf gegen die
Versuchung, sich einer terroristischen Gruppe anzus-
chließen, hat er ein paar Kröten zusammengekratzt und ist
nach Kalifornien geflogen, um dort womöglich öko-
logischer Revolutionär oder revolutionärer Ökologe zu
werden. Amerika ist für ihn nicht das Bild einer zukünf-
tigen Erneuerung geworden, sondern der Ort, wo er seine
Wunden lecken und sich über einen zerstörten (oder zu
früh als tot erklärten) Traum hinwegtrösten kann. Amerika
ist nicht mehr eine alternative Ideologie, sondern das Ende
der Ideologien. Er hat ohne Schwierigkeiten ein Visum
bekommen, denn er ist de facto nie in eine Partei der
historischen Linken eingetreten. Würden Pavese und
Vittorini heute noch leben, bekämen sie keines, denn sie,
die Väter unseres amerikanischen Traums, müßten auf
dem grünen Einreiseformular die Frage, ob sie jemals
Mitglied einer Partei waren, die den Umsturz der
amerikanischen Gesellschaft anstrebte, das Kästchen mit
»Ja« ankreuzen. Die amerikanische Bürokratie ist kein
Traum. Höchstens ein Alptraum.
Gibt es eine Moral dieser meiner Geschichte? Keine, und
viele. Um die italienische Haltung gegenüber Amerika zu
verstehen, und besonders die der antiamerikanischen
Italiener, wird man sich auch an die Anthologie
Americana erinnern müssen und an das, was in jenen
Jahren geschah. Als die linken Italiener vom Bild des
Genossen Sam träumten, mit ausgestrecktem Finger auf
sein Bild zeigten und sagten: I want you.
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Die Kraft des Falschen1
In der Quaestio quodlibetalis XII, 14 antwortet Thomas von Aquin auf die Frage » utrum veritas sit fortior
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