Die Bücher und das Paradies
Vittorini für Bompiani den Band Americana
zusammen, eine mehr als tausendseitige Anthologie mit
Texten, die von Washington Irving bis Thornton Wilder
und William Saroyan reichten, unter Einschluß von
O. Henry und Gertrude Stein – übersetzt von jungen
Literaten namens Alberto Moravia, Carlo Linati, Guido
Piovene, Eugenio Montale, Cesare Pavese.
Aus heutiger Sicht war die Anthologie ziemlich voll-
ständig, vielleicht zu reichhaltig, sicher unausgewogen:
Fitzgerald wird unterschätzt, Saroyan überschätzt, es
finden sich Autoren wie John Fante, die später keinen so
bedeutenden Platz mehr in den literarischen Chroniken
einnehmen sollten. Aber diese Anthologie wollte keine
Geschichte der amerikanischen Literatur sein, sondern der
Entwurf einer Allegorie, eine Art Göttliche Komödie, in
der Paradies und Hölle zusammenfielen.
Schon 1938 hatte Vittorini geschrieben ( Letteratura , 5), die amerikanische Literatur sei eine Weltliteratur mit einer
einzigen Sprache, und das Amerikanisch-Sein falle
zusammen mit dem Nicht-amerikanisch-Sein, mit dem
Freisein von lokalen Traditionen und dem Offen-Sein für
die gemeinsame Zivilisation der Menschheit.
In Americana klingt Vittorinis erste Beschreibung der Vereinigten Staaten geradezu homerisch, mit dem Bild der
großen Ebenen und der Eisenbahnen, der Schneegebirge
und der endlosen Landschaften von Küste zu Küste. Eine
lithographische Unschuld à la Courrier und Ives, eine
Epik, die von keiner unmittelbaren Evidenz genährt wird,
321
reine intertextuelle Traumphantasie. Sie enthält die gleiche
Freiheit, mit der Vittorini seine amerikanischen Autoren
übersetzte, alle ins »Vittorinische«, in dem eine
teilnehmende Kreativität die philologische Genauigkeit in
den Hintergrund drängte. Das Amerika, das Vittorini auf
jenen Seiten zeichnete, ist ein prähistorisches Land,
erschüttert von Erdbeben und Kontinentaldriften, in dem
jedoch anstelle der Dinosaurier und Mammuts die riesen-
haften Profile von Jonathan Edwards herrschen, der Rip
van Winkle aufweckt, um ihn zu einem epischen Duell mit
Edgar Allan Poe einzuladen, der seinerseits Moby Dick
reitet. Auch die kritischen Urteile sind Metaphern und
Hyperbeln:
Melville ist das Adjektiv zu Poe und Hawthorne als
Substantiven. Er sagt uns, daß Reinheit Wildheit ist. Reinheit ist ein Tiger … Billy Budd am Galgen. Er ist ein Adjektiv. Doch so, wie das Glück ein Adjektiv des Lebens ist. Oder ebenso die
Verzweiflung.
Amerika als Chanson de geste . Ezra Pound und die
Schwarzen des Blues.
Amerika ist heute ( durch die neue Legende, die sich bildet )eine Art neuer märchenhafter Orient, und der Mensch erscheint darin von Mal zu Mal unter dem Zeichen einer erlesenen Besonderheit, als Filipino oder Chinese oder Slawe oder Kurde, um jedoch
substantiell immer dasselbe zu sein: lyrisches »Ich«, Protagonist der Schöpfung.
Der Band ist multimedial gestaltet, er enthält nicht nur
ausgewählte literarische Texte und literaturkritische Über-
leitungen, sondern auch großartige Fotografien. Bilder der
Fotografen des New Deal, die für die Works Progress
Administration arbeiteten. Ich weise ausdrücklich darauf
hin, weil ich von jungen Leuten gehört habe, die damals
gerade durch die Begegnung mit diesen Fotos kulturell
und politisch erwachten, da sie durch ihren Anblick mit
322
einer anderen Wirklichkeit konfrontiert wurden, auch mit
einer anderen Rhetorik oder besser Antirhetorik. Doch das
»Minculpop« konnte die Anthologie nicht akzeptieren.
Die erste Auflage von 1942 wurde beschlagnahmt. Sie
mußte neu gedruckt werden, ohne die Texte von Vittorini
und mit einem neuen Vorwort von Emilio Cecchi, das
akademischer und vorsichtiger war, weniger enthusiastisch
und insgesamt kritischer, »literarischer«.
Aber auch so beschnitten fand Americana viele Leser
und brachte eine neue Kultur hervor. Auch ohne die Seiten
von Vittorini wirkte der Aufbau, die Struktur der Antho-
logie wie eine Rede. Die Montage war die Botschaft.
Sogar die höchst anfechtbare Art, wie die Amerikaner
übersetzt waren, erzeugte einen neuen Sinn für die
Sprache. Zehn Jahre später, 1953, sollte Vittorini sagen, er
habe die Jugend nicht durch das beeinflußt, was er
übersetzt hatte, sondern durch die Art, wie er es übersetzt hatte.
Schon 1932 hatte Pavese anläßlich von O.
Henry
geschrieben, Amerika sei wie Italien eine Land mit
Dialekten. Aber im Unterschied zu Italien hätten die Dia-
lekte
Weitere Kostenlose Bücher