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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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inter
    vinum et regem et mulierem « – also ob die Wahrheit stärker, überzeugender, zwingender sei als die Macht des
    Königs, die Wirkung des Weines oder die Reize des
    Weibes.
    Die Antwort des Aquinaten – der den König achtete, an
    dessen Tafel er, wie ich glaube, ein gutes Glas Wein nicht
    verschmähte, und der bewiesen hatte, daß er den Reizen
    des Weibes zu widerstehen vermochte, indem er das
    nackte Mädchen mit einem brennenden Holzscheit ver-
    jagte, das ihm seine leiblichen Brüder in die Kammer
    geschickt hatten, um ihn dazu zu bewegen, Benediktiner
    zu werden und nicht die Familie durch das Bettlerhabit der
    Dominikaner zu entehren – war wie gewöhnlich subtil und
    ausgefeilt: Wein, Weib, König und Wahrheit sind nicht
    miteinander vergleichbar, denn non sunt unius generis , sie gehören nicht zur selben Gattung. Aber wenn man sie per
    comparationem ad aliquem effectum betrachtet, also in Hinblick auf ihre Wirkung, dann sind sie insofern
    vergleichbar, als sie das menschliche Herz zu Reaktionen
    bewegen. Der Wein wirkt sich auf unsere körperliche
    Verfassung aus, indem er uns facit per temulentiam loqui ,
    »durch Trunkenheit sprechen läßt«, und Macht über
    unsere animalisch-sensible Natur hat die delectatio
    venerea , die sexuelle Lust, also das Weib (für Thomas war 1 Erweiterte Fassung der Inaugurationsrede zur Eröffnung des
    Akademischen Jahres 1994 – 1995 an der Universität Bologna.
    331
    es nicht vorstellbar, daß es sexuelle Impulse umgekehrten
    Vorzeichens geben könnte, die legitimerweise das Weib
    erregen, aber man kann von Thomas nicht verlangen,
    Heloïse zu sein). Was den praktischen Intellekt angehe, so
    sei es offenkundig, daß der Wille des Königs respektive
    der des Gesetzes eine Macht über ihn habe. Die einzige
    Kraft aber, die den spekulativen Intellekt bewege, sei die
    Wahrheit. Und da vires corporales subiiciuntur viribus
    animalibus, vires animales intellectualibus, et
    intellectuales practicae speculativis … ideo simpliciter
    veritas dignior est et excellentior et fortior .2
    So groß also ist die Kraft der Wahrheit. Doch die
    Erfahrung lehrt uns, daß Wahrheit sich oft mit Verspätung
    durchsetzt und ihre Anerkennung Blut und Tränen kostet.
    Kommt es nicht recht häufig vor, daß der Irrtum eine ganz
    ähnliche Kraft bezeugt, so daß es legitim ist, von einer
    Kraft des Falschen zu sprechen?
    Um darzulegen, daß Falschheit (nicht unbedingt in Form
    der Lüge, aber gewiß in Form des Irrtums) die bewegende
    Kraft vieler Ereignisse der Geschichte war, müßte ich
    mich auf ein Kriterium der Wahrheit berufen. Würde ich
    dieses jedoch zu dogmatisch wählen, liefe meine
    Argumentation Gefahr, im selben Moment zu enden, in
    dem sie beginnt.
    Wenn man die Ansicht verträte, daß sämtliche Mythen
    und sämtliche Offenbarungen aller Religionen nichts als
    Lügen seien, bliebe nur der Schluß – da der Glaube an
    Götter jedweder Art die Geschichte der Menschheit voran-

    2 »Und da die körperlichen Kräfte den tierischen Kräften unterliegen, die tierischen Kräfte den intellektuellen und die praktischen intellektuellen den spekulativen … ist einfach die Wahrheit würdiger und vortrefflicher und stärker« (A. d. Ü.).
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    bewegt hat
    –, daß wir seit Jahrtausenden unter der
    Herrschaft des Falschen leben.
    Damit würden wir uns nicht nur eines banalen
    Euhemerismus schuldig machen, dieses skeptische Argu-
    ment erwiese sich auch aufs überzeugendste als leiblicher
    Bruder des entgegengesetzten fideistischen Arguments.
    Glaubt man an eine beliebige Offenbarungsreligion, muß
    man zugeben, daß Christus, wenn er der Sohn Gottes ist,
    nicht der Messias sein kann, der in Jerusalem noch
    erwartet wird, und daß, wenn Mohammed Allahs Prophet
    ist, es verfehlt war, der Gefiederten Schlange Opfer zu
    bringen. Ist man ein Anhänger des aufgeklärtesten und
    tolerantesten Theismus, der gleichzeitig an die Kommu-
    nion der Heiligen und an das Große Rad des Tao zu
    glauben bereit ist, wird man den Kindermord zu
    Bethlehem und die Abschlachtung der Ketzer als Früchte
    des Irrtums verwerfen. Ist man ein Satansanbeter, wird
    man die Bergpredigt als kindisch abtun. Ist man ein
    radikaler Atheist, wird man in jedem Glauben nur eine
    Verirrung sehen. Folglich kommt man nicht umhin
    zuzugeben – da viele Menschen im Lauf der Geschichte
    agiert haben, weil sie an etwas glaubten, woran irgendein
    anderer nicht glaubte –, daß die Geschichte für jeden zu
    einem mehr oder

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