Die Bücher und das Paradies
inter
vinum et regem et mulierem « – also ob die Wahrheit stärker, überzeugender, zwingender sei als die Macht des
Königs, die Wirkung des Weines oder die Reize des
Weibes.
Die Antwort des Aquinaten – der den König achtete, an
dessen Tafel er, wie ich glaube, ein gutes Glas Wein nicht
verschmähte, und der bewiesen hatte, daß er den Reizen
des Weibes zu widerstehen vermochte, indem er das
nackte Mädchen mit einem brennenden Holzscheit ver-
jagte, das ihm seine leiblichen Brüder in die Kammer
geschickt hatten, um ihn dazu zu bewegen, Benediktiner
zu werden und nicht die Familie durch das Bettlerhabit der
Dominikaner zu entehren – war wie gewöhnlich subtil und
ausgefeilt: Wein, Weib, König und Wahrheit sind nicht
miteinander vergleichbar, denn non sunt unius generis , sie gehören nicht zur selben Gattung. Aber wenn man sie per
comparationem ad aliquem effectum betrachtet, also in Hinblick auf ihre Wirkung, dann sind sie insofern
vergleichbar, als sie das menschliche Herz zu Reaktionen
bewegen. Der Wein wirkt sich auf unsere körperliche
Verfassung aus, indem er uns facit per temulentiam loqui ,
»durch Trunkenheit sprechen läßt«, und Macht über
unsere animalisch-sensible Natur hat die delectatio
venerea , die sexuelle Lust, also das Weib (für Thomas war 1 Erweiterte Fassung der Inaugurationsrede zur Eröffnung des
Akademischen Jahres 1994 – 1995 an der Universität Bologna.
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es nicht vorstellbar, daß es sexuelle Impulse umgekehrten
Vorzeichens geben könnte, die legitimerweise das Weib
erregen, aber man kann von Thomas nicht verlangen,
Heloïse zu sein). Was den praktischen Intellekt angehe, so
sei es offenkundig, daß der Wille des Königs respektive
der des Gesetzes eine Macht über ihn habe. Die einzige
Kraft aber, die den spekulativen Intellekt bewege, sei die
Wahrheit. Und da vires corporales subiiciuntur viribus
animalibus, vires animales intellectualibus, et
intellectuales practicae speculativis … ideo simpliciter
veritas dignior est et excellentior et fortior .2
So groß also ist die Kraft der Wahrheit. Doch die
Erfahrung lehrt uns, daß Wahrheit sich oft mit Verspätung
durchsetzt und ihre Anerkennung Blut und Tränen kostet.
Kommt es nicht recht häufig vor, daß der Irrtum eine ganz
ähnliche Kraft bezeugt, so daß es legitim ist, von einer
Kraft des Falschen zu sprechen?
Um darzulegen, daß Falschheit (nicht unbedingt in Form
der Lüge, aber gewiß in Form des Irrtums) die bewegende
Kraft vieler Ereignisse der Geschichte war, müßte ich
mich auf ein Kriterium der Wahrheit berufen. Würde ich
dieses jedoch zu dogmatisch wählen, liefe meine
Argumentation Gefahr, im selben Moment zu enden, in
dem sie beginnt.
Wenn man die Ansicht verträte, daß sämtliche Mythen
und sämtliche Offenbarungen aller Religionen nichts als
Lügen seien, bliebe nur der Schluß – da der Glaube an
Götter jedweder Art die Geschichte der Menschheit voran-
2 »Und da die körperlichen Kräfte den tierischen Kräften unterliegen, die tierischen Kräfte den intellektuellen und die praktischen intellektuellen den spekulativen … ist einfach die Wahrheit würdiger und vortrefflicher und stärker« (A. d. Ü.).
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bewegt hat
–, daß wir seit Jahrtausenden unter der
Herrschaft des Falschen leben.
Damit würden wir uns nicht nur eines banalen
Euhemerismus schuldig machen, dieses skeptische Argu-
ment erwiese sich auch aufs überzeugendste als leiblicher
Bruder des entgegengesetzten fideistischen Arguments.
Glaubt man an eine beliebige Offenbarungsreligion, muß
man zugeben, daß Christus, wenn er der Sohn Gottes ist,
nicht der Messias sein kann, der in Jerusalem noch
erwartet wird, und daß, wenn Mohammed Allahs Prophet
ist, es verfehlt war, der Gefiederten Schlange Opfer zu
bringen. Ist man ein Anhänger des aufgeklärtesten und
tolerantesten Theismus, der gleichzeitig an die Kommu-
nion der Heiligen und an das Große Rad des Tao zu
glauben bereit ist, wird man den Kindermord zu
Bethlehem und die Abschlachtung der Ketzer als Früchte
des Irrtums verwerfen. Ist man ein Satansanbeter, wird
man die Bergpredigt als kindisch abtun. Ist man ein
radikaler Atheist, wird man in jedem Glauben nur eine
Verirrung sehen. Folglich kommt man nicht umhin
zuzugeben – da viele Menschen im Lauf der Geschichte
agiert haben, weil sie an etwas glaubten, woran irgendein
anderer nicht glaubte –, daß die Geschichte für jeden zu
einem mehr oder
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