Die Bücher und das Paradies
weniger großen Teil der Schauplatz einer
Illusion gewesen ist.
Halten wir uns daher an einen Begriff von Wahrheit und
Falschheit, der weniger angefochten, wenn auch philo-
sophisch anfechtbar ist (aber wenn man auf die
Philosophen hört, ist bekanntlich alles anfechtbar und man
kommt nie ans Ende). Halten wir uns an das in der
abendländischen Kultur wissenschaftlich oder historisch
akzeptierte Wahrheitskriterium; das heißt an jenes, nach
welchem wir alle uns darüber einig sind, daß Julius Caesar
an den Iden des März getötet worden ist, daß die Truppen
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des jungen savoyischen Königreiches am 20. September
1870 durch die Bresche der Porta Pia nach Rom
eingedrungen sind, daß die Formel der Schwefelsäure
H2SO4 lautet oder daß der Delphin ein Säugetier ist.
Selbstverständlich kann jede dieser Erkenntnisse
aufgrund neuer Entdeckungen revidiert werden; aber
einstweilen sind sie so in der Enzyklopädie registriert, und
bis zum Beweis des Gegenteils glauben und betrachten wir
es als eine faktische Wahrheit, daß die chemische
Zusammensetzung des Wassers H2O ist (manche Philo-
sophen glauben sogar, daß diese Wahrheit für alle
möglichen Welten gilt).
Nun ist es im Lauf der Geschichte vorgekommen, daß
Glaubensvorstellungen und Behauptungen, die von der
Enzyklopädie effektiv dementiert werden, als glaubwürdig angesehen wurden; als dermaßen glaubwürdig, daß sie die
Gelehrten zum Schweigen brachten, Imperien entstehen
und zusammenbrechen ließen, die Dichter inspirierten (die
nicht immer die Zeugen der Wahrheit sind) und die
Menschen insgesamt zu heroischen Opfern, zu Intoleranz,
zu Blutbädern und zur Suche nach Weisheit trieben. Wenn
dem so ist, wie kann man dann leugnen, daß es eine Kraft
des Falschen gibt?
Das fast kanonische Beispiel ist das der ptolemäischen
Hypothese. Heute wissen wir, daß sich die Menschheit
jahrhundertelang mit einem falschen Bild der Welt auf
ebendieser bewegt hat. Sie hat alle möglichen Listen und
Kniffe aufgeboten, um die Falschheit ihres Bildes
auszugleichen, hat Epizyklen und Deferenten erfunden,
hat schließlich mit Tycho Brahe versucht, die Planeten
allesamt um die Sonne kreisen zu lassen, solange diese nur
fortfährt, um die Erde zu kreisen. Auf der Basis dieses
Bildes bewegten sich, ich sage nicht Dante Alighieri, was
nichts bedeuten würde, aber die phönizischen Seefahrer,
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Sankt Brendan, Eric der Rote und Christoph Kolumbus
(und einer der beiden ist immerhin als erster nach Amerika
gelangt). Damit nicht genug, auf der Grundlage dieser
falschen Hypothese ist es gelungen, den Globus in
Längen- und Breitengrade einzuteilen, so wie wir es heute
noch tun, nachdem wir lediglich den Nullmeridian von
den Kanarischen Inseln nach Greenwich verlagert haben.
Das Beispiel des Ptolemäus, das von weitem an die
unglückliche Geschichte Galileis erinnert, scheint wie
geschaffen, uns mit weltlicher Überheblichkeit glauben zu
lassen, meine Geschichte der Falschheit und ihrer Macht
beträfe nur Fälle, in denen dogmatisches Denken sich
gegen das Licht der Wahrheit versperrt. Hier aber nun eine
Geschichte mit umgekehrtem Vorzeichen: die Geschichte
einer anderen Falschheit, die vom neuzeitlich-weltlichen
Denken langsam aufgebaut worden ist, um das religiöse
Denken zu diffamieren.
Machen wir einmal ein Experiment und fragen wir eine
Durchschnittsperson, was ihrer Meinung nach Christoph
Kolumbus beweisen wollte, als er auszog, »den Osten über
den Westen zu erreichen«, wie er sagte, und warum die
Gelehrten von Salamanca ihn so hartnäckig daran hindern
wollten. In den meisten Fällen wird die Antwort sein, daß
Kolumbus die Erde für rund hielt, während die Gelehrten
von Salamanca glaubten, sie sei eine Scheibe und nach
kurzer Fahrt würden die drei Karavellen in den kos-
mischen Abgrund stürzen.
Das laizistische Denken der Aufklärung hat, erbost über
die Weigerung der Kirche, die heliozentrische Hypothese
zu akzeptieren, dem ganzen christlichen Denken des
Mittelalters (dem patristischen wie dem scholastischen)
die Vorstellung von der Erde als flacher Scheibe
zugeschrieben. Das positivistische und antiklerikale
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19. Jahrhundert hat sich dieses Klischee zu eigen gemacht,
das, wie Jeffrey Burton Russell3 gezeigt hat, durch den
Kampf der Verfechter der Darwinschen Hypothese gegen
jede Form von Fundamentalismus noch bestärkt worden
ist. Ging es ihnen doch darum zu beweisen, daß die
Kirchen,
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