Die Bücher und das Paradies
beschaffen
ist und warum er so funktioniert, wie er funktioniert.
Dabei kann sich diese Kritik eine Bestätigung vornehmen
(»jetzt werde ich zeigen, warum alle diesen Text für
großartig halten«), eine Neubewertung oder auch die
Zerstörung eines Mythos. Die Arten, in denen man zeigen
kann, wie ein Text gebaut und beschaffen ist (und warum
es gut ist, daß er so ist, und warum er gar nicht anders sein
könnte und warum er gerade, weil er so und nicht anders
ist, als hervorragend angesehen werden muß), können
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zahllos sein. Wie immer sie sich jedoch artikulieren, diese
Kritik kann nur eine semiotische Textanalyse sein.
Daher kann man sagen, wenn wahre Kritik betreiben
heißt, verstehen und verständlich machen, wie ein Text
gebaut und beschaffen ist, und wenn die Rezension und
die Literaturgeschichte das nicht im vollen Umfang leisten
können, dann ist die einzige wahre Form der Kritik eine
semiotische Lektüre des Textes.
Eine semiotische Lektüre des Textes hat von der wahren
Kritik (die wie gesagt dazu führen muß, den Text in allen
seinen Aspekten und Möglichkeiten zu verstehen), jene
Qualität, die der Rezension und der Literaturgeschichte
gewöhnlich notgedrungen fehlt: daß sie nicht be- oder verschreibt , in welcher Weise der Text Vergnügen
bereitet, sondern darlegt, warum er Vergnügen bereiten
kann.
Die rezensierende Kritik kann sich aufgrund ihrer
Beratungsfunktion nicht davor drücken – außer in Fällen
von exzeptioneller Feigheit
–, ein Urteil über das
abzugeben, was der Text aussagt. Die literarhistorische
Kritik kann bestenfalls darlegen, daß ein Werk
unterschiedliche und wechselnde Rezeptionen erfahren
und verschiedene Reaktionen hervorgerufen hat. Die
Textkritik, die immer semiotisch ist, auch wenn sie es
nicht weiß oder es abstreitet, erfüllt dagegen jene
Funktion, die Hume in seinem Essay »Of the Standard of
Taste« aufs trefflichste beschrieben hat, indem er eine
Stelle aus Don Quijote zitiert, wo Sancho Pansa erzählt: Zwei meiner Verwandten wurden einmal gebeten, ihre Meinung
über einen Faßwein zu äußern, der als hervorragend galt, weil er alt war und von einer guten Traube stammte. Einer von ihnen
kostete, besann sich und urteilte nach reiflicher Überlegung, daß es guter Wein sei, gäbe es nicht jenen leichten Ledergeschmack, den er darin wahrnehme. Der andere, nachdem er die gleichen Maß-
nahmen getroffen, äußerte sich ebenfalls positiv über den Wein, 212
aber mit dem Vorbehalt, es gebe da einen Geschmack nach Eisen, der deutlich zu spüren sei. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr die beiden für ihr Urteil verspottet wurden. Aber wer hat zuletzt gelacht? Als man das Faß leerte, fand man auf dem Grund einen
alten Schlüssel, an dem ein ledernes Riemchen hing.
Da haben wir es, die wahre Kritik ist die, die zuletzt
lacht, denn sie läßt jedem sein Vergnügen, aber sie zeigt
bei allen, woher es kommt.
Natürlich kennt auch eine Textkritik, die von einem
philosophus additus artifici betrieben wird, ihre Exzesse, die sie an der Erfüllung ihrer Aufgabe hindern. Es wird
daher nützlich sein, einige Fehler der Textsermotik ins
Auge zu fassen, die häufig dazu geführt haben, daß es zu
den oben erwähnten Ablehnungssyndromen kam.
Man verwechselt oft zwischen semiotischer Literatur-
theorie und semiotisch orientierter Kritik . Ich verweise hierzu auf eine alte Debatte der sechziger Jahre, die,
ausgelöst durch einen Katalog des Verlags Il Saggiatore
zum Thema »Strukturalismus und Kritik«, im wesent-
lichen zwei Optionen gegenüberstellte, eine vertreten von
Cesare Segre, die andere von Luigi Rosiello. Um es kurz
zu sagen, für die erste Option sollte die linguistische
Theorie dazu dienen, das einzelne Werk besser zu
verstehen, für die zweite sollte die Analyse des einzelnen
Werkes dazu dienen, das Wesen der Sprache besser zu
erkennen. Mit anderen Worten, für die erste Option sollte
ein Ensemble von theoretischen Annahmen dazu dienen,
den persönlichen Stil eines Autors besser zu erkennen, für
die zweite war der persönliche Stil eine Abweichung von
der Norm, die das Wissen um diese Norm als solche
bereicherte.
Nun waren und sind diese beiden Optionen gleicher-
maßen legitim. Man kann eine Theorie der Literatur
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aufstellen und die einzelnen Werke als Dokumente
benutzen, und man kann die einzelnen Werke im Licht
einer Theorie der Literatur lesen oder genauer, indem man
versucht, die
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