Die Bücher und das Paradies
Lektüre
vorausgeht, besteht oft die Neigung, ständig die schon
bekannten Instrumente der Untersuchung offenzulegen,
um zu zeigen, daß man sie kennt oder daß man so
einfallsreich war, sie zu konstruieren – statt kunstvoll die
Kunst zu verbergen und das, was der Text am Ende
enthüllt, direkt aus dem Text hervorgehen zu lassen, nicht
aus den bemühten Essays der theoretischen Metasprache.
Es liegt auf der Hand, daß eine solche Vorgehensweise
den Leser abschreckt, der ja etwas über den Text wissen
wollte und nicht über die Metasprache der Lektüre-
protokolle.
Da eine Texttheorie Invarianten skizziert, während eine
Kritik des Textes die Variablen herausarbeiten müßte,
geschieht es häufig – nachdem man begriffen hat, daß die
Welt der Intertextualität aus Invarianten und einfalls-
reichen Ausnahmen besteht und das Werk ein Wunder an
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Erfindungskraft ist, welches die Varianten, mit denen es
spielt, zurückhält und verbirgt –, daß die semiotische
Untersuchung sich auf die Entdeckung gerade der
Invarianten jedes Textes beschränkt und die Erfindungen
aus dem Blick verliert.
So kommt es dann zu Untersuchungen über die Struktur
der Tarotkarten bei Calvino (als hätte der Autor nicht
selber schon alles dargelegt) oder zu Aufsätzen über
Leben und Tod im Quadrat, identifiziert in beliebigen
Texten, mit dem Ergebnis, daß Hamlet auf Sein oder
Nichtsein, auf Nicht-Seinwollen oder Nichtsein-Wollen
reduziert wird. Wobei das Vorgehen wohlgemerkt
didaktisch glänzend sein und sogar zeigen kann, wie dort,
wo wir alle uns täglich zwischen dem Seinwollen und dem
Nichtseinwollen abmühen, Shakespeare uns ein ewiges
Dilemma auf neue Weise vor Augen führt. Aber es ist
gerade dieses »Neue«, bei dem der Diskurs ansetzen muß,
und die narratologische Einebnung ist nur Vorspiel zur
Entdeckung der künstlerischen Höhen.
Wenn es richtig ist, daß die Literaturtheorie Invarianten
in verschiedenen Texten entdeckt, dann darf der Kritiker,
wenn er diese Theorie anwendet, sich nicht darauf
beschränken, in jedem Text dieselben Invarianten
herauszuarbeiten (womit er nicht über die Arbeit des
Theoretikers hinausginge), sondern muß allenfalls vom
Wissen um die Invarianten ausgehen, um zu sehen, wie
der Text sie in Frage stellt, sie gegeneinander ausspielt
und das Skelett von Fall zu Fall mit neuen Muskeln
bepackt und mit neuer Haut überzieht. Das Drama des
Nicht-wissen-Wollens von Ödipus (bei Sophokles) ent-
steht nicht durch diese Thematik (die sich auch in
Boulevardstücken findet, in denen die betrogene Ehefrau
zu der schwatzhaften Freundin sagt: »Bitte, sag’s mir
nicht«), sondern durch die Strategie, mit der die Ent-
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hüllung hinausgezögert wird, durch den Spieleinsatz
(Vatermord und Inzest gegen banalen Ehebruch) und die
diskursive Oberfläche.
Last but not least, die Textsemiotik unterscheidet oft
nicht klar genug zwischen Manier und Stil in dem Sinne, wie Hegel das getan hat: erstere als wiederkehrende
Obsession des Autors, der sich ständig selbst imitiert,
letzterer als Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu
überwinden. Dabei wäre gerade eine Textsemiotik als
einzige in der Lage, diese Unterschiede deutlich zu
machen.
Doch wenn man der Textsemiotik so viele Exzesse
vorwerfen kann, was ist dann über die Defekte ihrer
Gegner zu sagen? Gewiß ist es hier nicht unsere Sache,
uns über die Orgasmen zu beklagen, an denen uns die
artifices additi artifici teilhaben lassen, die uns in jedem Werk das Tagebuch ihrer Ent- und Verzückungen als
Leser vorbeten, so daß eine dem Autor A gewidmete
Seite, die versehentlich in ein dem Autor B gewidmetes
Buch gerutscht ist, weder vom Korrektor noch vom
Rezensenten bemerkt wird.
Tatsächlich könnten wir den im Orgasmus schwelgenden
Kritikern ihr Vergnügen lassen, das niemandem weh tut
und nach einer Weile zeigt, wie wenig sie, die in Worten
so orgiastisch sind, tatsächlich Libertinage treiben, ja daß
sie geradezu einen Horror vor dem Anderssein haben,
machen sie doch bei jeder ihrer kritischen Umarmungen
letztlich nichts anderes als Liebe mit sich selbst. Und wir
könnten auch denen, die Sozialkritik oder Geschichte der
literarischen Institutionen oder Kritik der Sitten und
Unsitten treiben wollen, ihre Tätigkeit lassen, die ja oft
nützlich und wohlverdient ist.
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Nur hat sich leider in den letzten zehn Jahren
hierzulande eine Art neuer Wettsport entwickelt, bei dem
es darum
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