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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Prinzipien einer Literaturtheorie aus der
    Analyse einzelner Werke zu entwickeln.
    Nehmen wir das Beispiel einer Abteilung der
    Texttheorie wie der sogenannten Narratologie, die Texte
    nicht als Gegenstand der Analyse, sondern als Beispiele
    für Erzähltechniken benutzt. Wenn die Kritik eines
    narrativen Textes zu einem besseren Verständnis dieses
    Textes dient, wozu dient dann die Narratologie? Zunächst
    einmal dazu, Narratologie zu betreiben, so wie die
    Philosophie essentiell zum Philosophieren dient. Sie
    erlaubt zu verstehen, wie narrative Texte im allgemeinen
    funktionieren, gleich ob sie schön oder häßlich sind.
    Sodann hilft sie vielen anderen Disziplinen (wie der
    Künstlichen Intelligenz, der Semantik, der Psychologie) zu
    verstehen, wie die Gesamtheit unserer Erfahrung sich
    (vielleicht) immer und überall in Form von »Erzählungen«
    strukturiert: Eine narratologische Theorie, die bloß
    erklärte, wie man erzählt, wäre noch wenig, aber wenn sie
    uns begreifen läßt, wie wir unsere Annäherungsweise an
    die Welt in narrativen Sequenzen organisieren, dann ist
    das schon etwas mehr. Schließlich dient sie auch dazu,
    besser lesen zu lernen, und sogar (siehe Calvino) neue
    Formen des Schreibens zu erfinden. Vorausgesetzt, man
    weiß sie mit einer »natürlichen« Art des Lesens
    interagieren zu lassen, das heißt mit einer kritischen
    Lektüre, die nicht schon in narratologischen Vorurteilen
    erstarrt ist.
    Nun gibt es zwei Mißverständnisse, eines über die
    Produktion und eines über die Rezeption. Zu ersterem
    kommt es, wenn der Semiotiker nicht recht weiß oder
    nicht deutlich genug klarstellt, ob er den Text zur
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    Bereicherung seiner Erzähltheorie benutzt, oder ob er
    einige erzähltheoretische Kategorien benutzt, um den Text
    besser zu verstehen. Zum zweiten kommt es, wenn der
    Leser (oft voreingenommen) einen Diskurs als Kritik
    mißversteht, der jedoch darauf abzielt, aus einem oder
    mehreren einzelnen Texten die allgemeinen Prinzipien der
    Narrativität abzuleiten. Das ist dann so, als würde ein
    Psychologe, der sich für die Gründe interessiert, aus denen
    jemand tötet, eine statistische Untersuchung über die
    Morde der letzten zwanzig Jahre lesen und sich dann
    beklagen, daß die Statistik keine Erklärung der indivi-
    duellen Motive gibt.
    Wir könnten uns damit begnügen, diese vorein-
    genommenen Leser darauf hinzuweisen, daß die narrato-
    logischen Theorien weder zur besseren Lektüre noch zur
    genaueren Kritik dienen. Wir könnten sagen, daß sie
    lediglich Protokolle mehrfacher Lektüren sind und die
    gleiche Funktion haben wie die physikalische Theorie, die
    uns erklärt, wie und warum alle Körper nach demselben
    Gesetz fallen, aber nicht, ob das gut oder schlecht ist, noch
    welcher Unterschied zwischen dem Fall eines Steins vom
    Turm zu Pisa und dem Fall eines unglücklich Liebenden
    von einer sturmumtosten Klippe besteht. Wir könnten
    sagen, daß narratologische Theorien nicht dazu dienen, die
    einzelnen Texte besser zu verstehen, sondern die Fabulier-
    funktion in ihrer Gesamtheit, daß sie also eher wie ein
    Unterkapitel der Psychologie oder der Ethnologie er-
    scheinen als wie eines der Literaturkritik.
    Allerdings müßten wir auch erklären, daß sie darüber
    hinaus zumindest noch einen pädagogischen Wert haben.
    Sie stellen das Instrument dar, mit dem derjenige, der
    Lesen lehrt, sofort die Knotenpunkte erkennt, auf die er
    die Aufmerksamkeit des Zöglings lenken muß. Mithin
    würden sie auch dazu dienen, Lesen zu lehren. Aber da
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    man auch diejenigen lehren muß, richtig zu lesen, die
    nicht mehr Analphabeten sind, dienen sie auch dem reifen
    Leser, dem Kritiker, dem Schriftsteller dazu, einen
    sicheren Blick auszubilden.
    Man müßte also begreiflich machen, daß, wenn das
    Wörterbuch nicht genügt, um einen guten Schriftsteller zu
    machen, gute Schriftsteller trotzdem Wörterbücher
    benutzen. Ohne daß deshalb der Zingarelli und die Canti
    von Leopardi zur selben diskursiven Gattung gehörten.
    Dennoch sind die Gegner der Textsemiotik nicht
    imstande, vielleicht auch wegen eines Fehlverhaltens der
    Semiotiker, die beiden Kritikformen (die der Textsemiotik
    und die der semiotisch orientierten Textkritik) zu
    unterscheiden. Und daher entgeht ihnen der Sinn jenes
    dritten Typs von Kritik, den ich angesprochen habe, des
    einzigen, der uns helfen kann, die Art der Formbildung
    eines Textes zu verstehen.
    Wenn die Theorie voreingenommen der

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