Die Bücher und das Paradies
Prinzipien einer Literaturtheorie aus der
Analyse einzelner Werke zu entwickeln.
Nehmen wir das Beispiel einer Abteilung der
Texttheorie wie der sogenannten Narratologie, die Texte
nicht als Gegenstand der Analyse, sondern als Beispiele
für Erzähltechniken benutzt. Wenn die Kritik eines
narrativen Textes zu einem besseren Verständnis dieses
Textes dient, wozu dient dann die Narratologie? Zunächst
einmal dazu, Narratologie zu betreiben, so wie die
Philosophie essentiell zum Philosophieren dient. Sie
erlaubt zu verstehen, wie narrative Texte im allgemeinen
funktionieren, gleich ob sie schön oder häßlich sind.
Sodann hilft sie vielen anderen Disziplinen (wie der
Künstlichen Intelligenz, der Semantik, der Psychologie) zu
verstehen, wie die Gesamtheit unserer Erfahrung sich
(vielleicht) immer und überall in Form von »Erzählungen«
strukturiert: Eine narratologische Theorie, die bloß
erklärte, wie man erzählt, wäre noch wenig, aber wenn sie
uns begreifen läßt, wie wir unsere Annäherungsweise an
die Welt in narrativen Sequenzen organisieren, dann ist
das schon etwas mehr. Schließlich dient sie auch dazu,
besser lesen zu lernen, und sogar (siehe Calvino) neue
Formen des Schreibens zu erfinden. Vorausgesetzt, man
weiß sie mit einer »natürlichen« Art des Lesens
interagieren zu lassen, das heißt mit einer kritischen
Lektüre, die nicht schon in narratologischen Vorurteilen
erstarrt ist.
Nun gibt es zwei Mißverständnisse, eines über die
Produktion und eines über die Rezeption. Zu ersterem
kommt es, wenn der Semiotiker nicht recht weiß oder
nicht deutlich genug klarstellt, ob er den Text zur
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Bereicherung seiner Erzähltheorie benutzt, oder ob er
einige erzähltheoretische Kategorien benutzt, um den Text
besser zu verstehen. Zum zweiten kommt es, wenn der
Leser (oft voreingenommen) einen Diskurs als Kritik
mißversteht, der jedoch darauf abzielt, aus einem oder
mehreren einzelnen Texten die allgemeinen Prinzipien der
Narrativität abzuleiten. Das ist dann so, als würde ein
Psychologe, der sich für die Gründe interessiert, aus denen
jemand tötet, eine statistische Untersuchung über die
Morde der letzten zwanzig Jahre lesen und sich dann
beklagen, daß die Statistik keine Erklärung der indivi-
duellen Motive gibt.
Wir könnten uns damit begnügen, diese vorein-
genommenen Leser darauf hinzuweisen, daß die narrato-
logischen Theorien weder zur besseren Lektüre noch zur
genaueren Kritik dienen. Wir könnten sagen, daß sie
lediglich Protokolle mehrfacher Lektüren sind und die
gleiche Funktion haben wie die physikalische Theorie, die
uns erklärt, wie und warum alle Körper nach demselben
Gesetz fallen, aber nicht, ob das gut oder schlecht ist, noch
welcher Unterschied zwischen dem Fall eines Steins vom
Turm zu Pisa und dem Fall eines unglücklich Liebenden
von einer sturmumtosten Klippe besteht. Wir könnten
sagen, daß narratologische Theorien nicht dazu dienen, die
einzelnen Texte besser zu verstehen, sondern die Fabulier-
funktion in ihrer Gesamtheit, daß sie also eher wie ein
Unterkapitel der Psychologie oder der Ethnologie er-
scheinen als wie eines der Literaturkritik.
Allerdings müßten wir auch erklären, daß sie darüber
hinaus zumindest noch einen pädagogischen Wert haben.
Sie stellen das Instrument dar, mit dem derjenige, der
Lesen lehrt, sofort die Knotenpunkte erkennt, auf die er
die Aufmerksamkeit des Zöglings lenken muß. Mithin
würden sie auch dazu dienen, Lesen zu lehren. Aber da
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man auch diejenigen lehren muß, richtig zu lesen, die
nicht mehr Analphabeten sind, dienen sie auch dem reifen
Leser, dem Kritiker, dem Schriftsteller dazu, einen
sicheren Blick auszubilden.
Man müßte also begreiflich machen, daß, wenn das
Wörterbuch nicht genügt, um einen guten Schriftsteller zu
machen, gute Schriftsteller trotzdem Wörterbücher
benutzen. Ohne daß deshalb der Zingarelli und die Canti
von Leopardi zur selben diskursiven Gattung gehörten.
Dennoch sind die Gegner der Textsemiotik nicht
imstande, vielleicht auch wegen eines Fehlverhaltens der
Semiotiker, die beiden Kritikformen (die der Textsemiotik
und die der semiotisch orientierten Textkritik) zu
unterscheiden. Und daher entgeht ihnen der Sinn jenes
dritten Typs von Kritik, den ich angesprochen habe, des
einzigen, der uns helfen kann, die Art der Formbildung
eines Textes zu verstehen.
Wenn die Theorie voreingenommen der
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