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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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er
    schreiben konnte: »Sie schrieb ihm einen unendlichen Brief.«
    Betrachtet man als Bestandteil des Stils aber auch jenes unbewußte große Gerüst, das von der gewollten Anordnung der Ideen
    verdeckt wird, bei Stendhal existiert es. Welches Vergnügen

würde mir der Nachweis bereiten, daß jedesmal, wenn Julien Sorel oder Fabrice die nichtigen Sorgen verlassen, um ein unbefangenes und wollüstiges Leben zu führen, sie sich stets an einem
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    hochgelegenen Ort befinden (sei es im Gefängnis von Fabrice oder dem von Julien, oder auch im Observatorium des Abbé Blanès).2
    Von Stil zu sprechen heißt an diesem Punkt, von der
    Machart und Beschaffenheit eines Werkes zu sprechen, zu
    zeigen, wie es Gestalt angenommen hat (sei’s auch
    manchmal durch rein ideales Fortschreiten eines
    generativen Prozesses), zu zeigen, warum es sich einem
    bestimmten Rezeptionstypus anbietet, ja, mehr noch, wie
    und warum es diesen Typus hervorruft. Und – dies für
    diejenigen, die noch daran interessiert sind, ästhetische
    Werturteile abzugeben – nur indem man die höchsten
    Mittel und Manöver des Stils identifiziert, verfolgt und
    freilegt, kann man erklären, warum ein Werk schön ist,
    warum es im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Rezep-
    tionen erfahren hat, warum es, obwohl Modellen und
    manchmal Vorschriften folgend, die im Meer der
    Intertextualität verstreut sind, deren Erbe in einer Weise
    hat annehmen und fruchtbar machen können, daß daraus
    etwas Originelles entstanden ist. Und warum es möglich
    ist, obwohl jedes einzelne der verschiedenen Werke eines
    Künstlers nach unwiederholbarer Originalität strebt, den
    persönlichen Stil dieses Künstlers in jedem seiner Werke
    wiederzufinden.
    Wenn dem so ist, müssen wir, denke ich, zweierlei
    festhalten: erstens, daß eine Semiotik der Künste nichts
    anderes ist als eine Erforschung und Freilegung der
    Manöver des Stils, und zweitens, daß Semiotik die höhere
    Form der Stilistik darstellt, mithin das Modell jeder
    Kunstkritik.

    2 Proust, Werke I, 3, Suhrkamp 1992, S. 426 f., dt. von Henriette Beese.
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    Dem wäre eigentlich nichts mehr hinzuzufügen; alle
    erinnern sich noch, wie erhellend für viele Texte (die wir
    schon vorher dunkel liebten) manche Ausführungen von
    russischen Formalisten, von Roman Jakobson, von den
    Narratologen oder den Analytikern der poetischen Rede
    waren. Doch wir leben wahrlich in finsteren Zeiten,
    zumindest in diesem Lande, wo immer öfter polemische
    Stimmen zu hören sind, die gerade die semiotischen
    Studien (die gern auch mit negativem Unterton
    formalistisch oder strukturahstisch genannt werden) als
    verantwortlich für einen Niedergang der Kritik anklagen,
    als pseudo-mathematisierende Diskurse, vollgestopft mit
    unlesbaren Formeln, in deren Dickicht das Aroma der
    Literatur ersticke und die Ekstase, zu welcher der Leser
    aufgerufen sei, in einer doppelten Buchführung erstarre –
    worin das Unsagbare und das Erhabene, die als höchste
    Ausformung der Kunst galten, in einer Orgie von Theorien
    verschwänden, die den Text zerpflückten, niedermachten,
    demütigten, ausquetschten, um ihm alle Frische, allen
    Zauber, alles Enthusiasmierende zu nehmen.
    Wir müssen uns also fragen, was unter Kritik (ob der
    Kunst oder der Literatur) zu verstehen ist, und der
    Einfachheit halber werde ich hier nur über Literaturkritik
    sprechen.
    Als erstes muß man, glaube ich, zwischen Reden über
    literarische Werke und Literaturkritik unterscheiden. Über
    literarische Werke kann man auf verschiedene Weise
    sprechen, ein Werk kann als Gegenstand soziologischer
    Forschung, als Dokument für eine Ideengeschichte, als
    psychologischer oder psychiatrischer Befund, als Anlaß
    oder Vorwand für moralische Betrachtungen genommen
    werden. Es gibt Kulturen, allen voran die angelsächsische,
    in denen – zumindest bis zum Aufkommen des New
    Criticism – das Reden über literarische Werke vor allem
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    ein Reden über Moral war. Nun sind alle diese Diskurse
    an sich legitim, würden sie nicht im selben Moment, in
    dem sie vorgebracht, vorausgesetzt, impliziert oder
    suggeriert werden, auf ein kritisch-ästhetisches Urteil
    verweisen, das jemand anders, oder auch der Autor selbst
    an anderer Stelle, bereits gesprochen haben müßte.
    Dieses urteilende Reden ist das der Kritik im
    eigentlichen Sinne, und es kann sich auf dreierlei Weise
    artikulieren – wobei klar sein muß, daß diese drei Weisen
    idealtypische »Gattungen« oder Modi der

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