Die Bücher und das Paradies
er
schreiben konnte: »Sie schrieb ihm einen unendlichen Brief.«
Betrachtet man als Bestandteil des Stils aber auch jenes unbewußte große Gerüst, das von der gewollten Anordnung der Ideen
verdeckt wird, bei Stendhal existiert es. Welches Vergnügen
würde mir der Nachweis bereiten, daß jedesmal, wenn Julien Sorel oder Fabrice die nichtigen Sorgen verlassen, um ein unbefangenes und wollüstiges Leben zu führen, sie sich stets an einem
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hochgelegenen Ort befinden (sei es im Gefängnis von Fabrice oder dem von Julien, oder auch im Observatorium des Abbé Blanès).2
Von Stil zu sprechen heißt an diesem Punkt, von der
Machart und Beschaffenheit eines Werkes zu sprechen, zu
zeigen, wie es Gestalt angenommen hat (sei’s auch
manchmal durch rein ideales Fortschreiten eines
generativen Prozesses), zu zeigen, warum es sich einem
bestimmten Rezeptionstypus anbietet, ja, mehr noch, wie
und warum es diesen Typus hervorruft. Und – dies für
diejenigen, die noch daran interessiert sind, ästhetische
Werturteile abzugeben – nur indem man die höchsten
Mittel und Manöver des Stils identifiziert, verfolgt und
freilegt, kann man erklären, warum ein Werk schön ist,
warum es im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Rezep-
tionen erfahren hat, warum es, obwohl Modellen und
manchmal Vorschriften folgend, die im Meer der
Intertextualität verstreut sind, deren Erbe in einer Weise
hat annehmen und fruchtbar machen können, daß daraus
etwas Originelles entstanden ist. Und warum es möglich
ist, obwohl jedes einzelne der verschiedenen Werke eines
Künstlers nach unwiederholbarer Originalität strebt, den
persönlichen Stil dieses Künstlers in jedem seiner Werke
wiederzufinden.
Wenn dem so ist, müssen wir, denke ich, zweierlei
festhalten: erstens, daß eine Semiotik der Künste nichts
anderes ist als eine Erforschung und Freilegung der
Manöver des Stils, und zweitens, daß Semiotik die höhere
Form der Stilistik darstellt, mithin das Modell jeder
Kunstkritik.
2 Proust, Werke I, 3, Suhrkamp 1992, S. 426 f., dt. von Henriette Beese.
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Dem wäre eigentlich nichts mehr hinzuzufügen; alle
erinnern sich noch, wie erhellend für viele Texte (die wir
schon vorher dunkel liebten) manche Ausführungen von
russischen Formalisten, von Roman Jakobson, von den
Narratologen oder den Analytikern der poetischen Rede
waren. Doch wir leben wahrlich in finsteren Zeiten,
zumindest in diesem Lande, wo immer öfter polemische
Stimmen zu hören sind, die gerade die semiotischen
Studien (die gern auch mit negativem Unterton
formalistisch oder strukturahstisch genannt werden) als
verantwortlich für einen Niedergang der Kritik anklagen,
als pseudo-mathematisierende Diskurse, vollgestopft mit
unlesbaren Formeln, in deren Dickicht das Aroma der
Literatur ersticke und die Ekstase, zu welcher der Leser
aufgerufen sei, in einer doppelten Buchführung erstarre –
worin das Unsagbare und das Erhabene, die als höchste
Ausformung der Kunst galten, in einer Orgie von Theorien
verschwänden, die den Text zerpflückten, niedermachten,
demütigten, ausquetschten, um ihm alle Frische, allen
Zauber, alles Enthusiasmierende zu nehmen.
Wir müssen uns also fragen, was unter Kritik (ob der
Kunst oder der Literatur) zu verstehen ist, und der
Einfachheit halber werde ich hier nur über Literaturkritik
sprechen.
Als erstes muß man, glaube ich, zwischen Reden über
literarische Werke und Literaturkritik unterscheiden. Über
literarische Werke kann man auf verschiedene Weise
sprechen, ein Werk kann als Gegenstand soziologischer
Forschung, als Dokument für eine Ideengeschichte, als
psychologischer oder psychiatrischer Befund, als Anlaß
oder Vorwand für moralische Betrachtungen genommen
werden. Es gibt Kulturen, allen voran die angelsächsische,
in denen – zumindest bis zum Aufkommen des New
Criticism – das Reden über literarische Werke vor allem
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ein Reden über Moral war. Nun sind alle diese Diskurse
an sich legitim, würden sie nicht im selben Moment, in
dem sie vorgebracht, vorausgesetzt, impliziert oder
suggeriert werden, auf ein kritisch-ästhetisches Urteil
verweisen, das jemand anders, oder auch der Autor selbst
an anderer Stelle, bereits gesprochen haben müßte.
Dieses urteilende Reden ist das der Kritik im
eigentlichen Sinne, und es kann sich auf dreierlei Weise
artikulieren – wobei klar sein muß, daß diese drei Weisen
idealtypische »Gattungen« oder Modi der
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