Die Bücher und das Paradies
Kritik sind und
es häufig vorkommt, daß unter dem Zeichen der einen
Gattung illustre Beispiele einer anderen Gattung geliefert
oder die drei Modi, sei’s im Guten oder im Schlechten,
miteinander vermischt werden.
Nennen wir die erste Gattung die Rezension , die
Besprechung eines Werkes für Leser, die es noch nicht
kennen. Eine gute Rezension kann auch Rekurs auf
komplexere Formen der Kritik nehmen, wie es die beiden
anderen sind, von denen ich noch sprechen werde, aber sie
ist grundsätzlich an die schnelle Reaktion gekettet, an den
kurzen Zeitraum zwischen Erscheinen, Lektüre und
kritischer Beurteilung eines Werks. In den besten Fällen
kann die Rezension sich darauf beschränken, den Lesern
eine ungefähre Vorstellung von dem noch nicht gelesenen
Werk zu geben und ihnen mitzuteilen, was der Kritiker
davon (nach seinem Geschmacksurteil) hält. Ihre Funktion
ist vor allem informativ (sie teilt mit, daß ein annähernd
soundso beschaffenes Werk erschienen ist) und vertrauen-
heischend diagnostisch
– die Leser glauben dem
Rezensenten, so wie sie dem Arzt glauben, der ihnen nach
kurzer Untersuchung eine beginnende Bronchitis attestiert
und einen Hustensaft verschreibt. Die Rezensions-
Diagnose hat nichts zu tun mit chemischen Laboranalysen
oder mit Erkundungen durch Sonden, die der Patient
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selber an einem Bildschirm verfolgen kann und in deren
Verlauf er sieht und versteht, was er hat und warum sein
Körper so und nicht anders reagiert. In der Rezension –
wie beim Besuch des Hausarztes – sieht der Leser nicht
das Werk, sondern erfährt nur, was ein anderer darüber
denkt.
Die zweite Gattung der Kritik –
die Literatur-
geschichte – handelt von Texten, die der Leser bereits kennt oder zumindest kennen sollte, denn er hat schon von
ihnen gehört. Diese Texte werden oft nur genannt,
manchmal knapp zusammengefaßt, auch mit Hilfe
exemplarischer Zitate, sie werden in Gruppen geordnet,
bestimmten Strömungen zugewiesen und in eine
chronologische Ordnung gebracht. Eine Literatur-
geschichte kann ein bloßes Nachschlagewerk sein,
manchmal wird sie zugleich eine Würdigung der Werke
und eine Geschichte der Ideen, man denke nur an die
Storia della letteratura italiana von De Sanctis. In den besten Fällen führt sie zur vollen und endgültigen
Anerkennung eines Werks, lenkt die Erwartungen und den
Geschmack des Lesers und eröffnet ihm ungeahnte
Horizonte.
Jede dieser beiden Gattungen kann auf zwei Arten
praktiziert werden, die sich mit Croce definieren lassen als
die des artifex additus artifici und die des philosophus additus artifici (des »Künstlers als Geselle des Künstlers«
und des »Philosophen/Theoretikers als Geselle des
Künstlers«). Im ersten Fall gibt uns der Kritiker weniger
eine Erklärung des Werkes als einen Bericht über seine
Gefühle beim Lesen, er versucht unbewußt, das Objekt
seiner demütigen Hingabe an Bravour zu übertreffen, und
manchmal gelingt ihm das auch
– wir alle kennen
Ausführungen über Literatur, die literarisch schöner sind
als die von ihnen besprochene Literatur, so wie Prousts
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Ausführungen über schlechte Musik hochmusikalisch
sind.
Im zweiten Fall versucht der Kritiker anhand bestimmter
Kategorien und Urteilskriterien zu zeigen, warum das
betreffende Werk schön ist. Doch wenn er eine Rezension
schreibt, hat er nicht genügend Platz, um darzulegen, wie
das Werk gebaut und beschaffen ist (und somit seine
Stilmanöver freizulegen), und wenn er eine Literatur-
geschichte schreibt, muß er seine Analyse notgedrungen in
einem vorgegebenen Rahmen halten, kann sie also nicht
über ein gewisses Maß hinaus vertiefen. Um jedoch den
Stil einer einzigen Seite wirklich freizulegen, braucht man
hundert Seiten, und in einer Literaturgeschichte ist das
Verhältnis zwangsläufig umgekehrt.
Kommen wir nun zur dritten Gattung, der Textkritik . In ihr muß der Kritiker annehmen, daß der Leser nichts über
das betreffende Werk weiß, auch wenn es sich um die
Divina Commedia handelt. Er muß ihm das Werk Stück
für Stück vor Augen führen, es ihn gleichsam zum ersten
Male entdecken lassen. Wenn der Text nicht so kurz ist,
daß man ihn in voller Länge zitieren kann, unterteilt nach
Absätzen oder Versen, muß man voraussetzen, daß der
Leser ihn auf andere Weise zur Hand hat, denn das Ziel
dieser Art von Kritik ist, den Leser Schritt für Schritt
entdecken zu lassen, wie der Text gebaut und
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