Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Kritik sind und
    es häufig vorkommt, daß unter dem Zeichen der einen
    Gattung illustre Beispiele einer anderen Gattung geliefert
    oder die drei Modi, sei’s im Guten oder im Schlechten,
    miteinander vermischt werden.
    Nennen wir die erste Gattung die Rezension , die
    Besprechung eines Werkes für Leser, die es noch nicht
    kennen. Eine gute Rezension kann auch Rekurs auf
    komplexere Formen der Kritik nehmen, wie es die beiden
    anderen sind, von denen ich noch sprechen werde, aber sie
    ist grundsätzlich an die schnelle Reaktion gekettet, an den
    kurzen Zeitraum zwischen Erscheinen, Lektüre und
    kritischer Beurteilung eines Werks. In den besten Fällen
    kann die Rezension sich darauf beschränken, den Lesern
    eine ungefähre Vorstellung von dem noch nicht gelesenen
    Werk zu geben und ihnen mitzuteilen, was der Kritiker
    davon (nach seinem Geschmacksurteil) hält. Ihre Funktion
    ist vor allem informativ (sie teilt mit, daß ein annähernd
    soundso beschaffenes Werk erschienen ist) und vertrauen-
    heischend diagnostisch
    – die Leser glauben dem
    Rezensenten, so wie sie dem Arzt glauben, der ihnen nach
    kurzer Untersuchung eine beginnende Bronchitis attestiert
    und einen Hustensaft verschreibt. Die Rezensions-
    Diagnose hat nichts zu tun mit chemischen Laboranalysen
    oder mit Erkundungen durch Sonden, die der Patient
    209
    selber an einem Bildschirm verfolgen kann und in deren
    Verlauf er sieht und versteht, was er hat und warum sein
    Körper so und nicht anders reagiert. In der Rezension –
    wie beim Besuch des Hausarztes – sieht der Leser nicht
    das Werk, sondern erfährt nur, was ein anderer darüber
    denkt.
    Die zweite Gattung der Kritik –
    die Literatur-
    geschichte – handelt von Texten, die der Leser bereits kennt oder zumindest kennen sollte, denn er hat schon von
    ihnen gehört. Diese Texte werden oft nur genannt,
    manchmal knapp zusammengefaßt, auch mit Hilfe
    exemplarischer Zitate, sie werden in Gruppen geordnet,
    bestimmten Strömungen zugewiesen und in eine
    chronologische Ordnung gebracht. Eine Literatur-
    geschichte kann ein bloßes Nachschlagewerk sein,
    manchmal wird sie zugleich eine Würdigung der Werke
    und eine Geschichte der Ideen, man denke nur an die
    Storia della letteratura italiana von De Sanctis. In den besten Fällen führt sie zur vollen und endgültigen
    Anerkennung eines Werks, lenkt die Erwartungen und den
    Geschmack des Lesers und eröffnet ihm ungeahnte
    Horizonte.
    Jede dieser beiden Gattungen kann auf zwei Arten
    praktiziert werden, die sich mit Croce definieren lassen als
    die des artifex additus artifici und die des philosophus additus artifici (des »Künstlers als Geselle des Künstlers«
    und des »Philosophen/Theoretikers als Geselle des
    Künstlers«). Im ersten Fall gibt uns der Kritiker weniger
    eine Erklärung des Werkes als einen Bericht über seine
    Gefühle beim Lesen, er versucht unbewußt, das Objekt
    seiner demütigen Hingabe an Bravour zu übertreffen, und
    manchmal gelingt ihm das auch
    – wir alle kennen
    Ausführungen über Literatur, die literarisch schöner sind
    als die von ihnen besprochene Literatur, so wie Prousts
    210
    Ausführungen über schlechte Musik hochmusikalisch
    sind.
    Im zweiten Fall versucht der Kritiker anhand bestimmter
    Kategorien und Urteilskriterien zu zeigen, warum das
    betreffende Werk schön ist. Doch wenn er eine Rezension
    schreibt, hat er nicht genügend Platz, um darzulegen, wie
    das Werk gebaut und beschaffen ist (und somit seine
    Stilmanöver freizulegen), und wenn er eine Literatur-
    geschichte schreibt, muß er seine Analyse notgedrungen in
    einem vorgegebenen Rahmen halten, kann sie also nicht
    über ein gewisses Maß hinaus vertiefen. Um jedoch den
    Stil einer einzigen Seite wirklich freizulegen, braucht man
    hundert Seiten, und in einer Literaturgeschichte ist das
    Verhältnis zwangsläufig umgekehrt.
    Kommen wir nun zur dritten Gattung, der Textkritik . In ihr muß der Kritiker annehmen, daß der Leser nichts über
    das betreffende Werk weiß, auch wenn es sich um die
    Divina Commedia handelt. Er muß ihm das Werk Stück
    für Stück vor Augen führen, es ihn gleichsam zum ersten
    Male entdecken lassen. Wenn der Text nicht so kurz ist,
    daß man ihn in voller Länge zitieren kann, unterteilt nach
    Absätzen oder Versen, muß man voraussetzen, daß der
    Leser ihn auf andere Weise zur Hand hat, denn das Ziel
    dieser Art von Kritik ist, den Leser Schritt für Schritt
    entdecken zu lassen, wie der Text gebaut und

Weitere Kostenlose Bücher