Die Bücher und das Paradies
unterschiedlich und mit
unterschiedlicher Klarheit verstanden worden.
So geht er zum Beispiel sehr bald dazu über, weitgehend
kodifizierte literarische Gattungen zu bezeichnen
(erhabener, mittlerer, feiner Stil; attischer, asiatischer oder rhodischer Stil; tragischer, elegischer oder komischer Stil).
In diesem wie in vielen anderen Fällen ist Stil eine
Vorgehensweise nach bestimmten, gewöhnlich sehr
präskriptiven Regeln, und so war er denn auch häufig
begleitet von den Ideen der Vorschrift, der Nachahmung
und der Befolgung von Modellen. Gewöhnlich wird
angenommen, im Zeitalter des Manierismus und des
Barock habe sich dann mit der Vorstellung von Stil immer
mehr die der Originalität und des Ingeniums verbunden –
und das nicht nur in den Künsten, sondern auch im Leben,
da mit der Renaissance-Vorstellung von »stolzer Unge-
zwungenheit« der Mann von Stil derjenige wird, der den
1 Schlußbeitrag zu dem Kongreß »Lo Stile
– Gli stili« der
Associazione Italiana di Studi Semiotici (Feltre, September 1995).
Veröffentlicht in Carte semiotiche , 3. September 1996.
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Scharfsinn und Mut aufbringt (und die soziale Macht hat),
gegen die herrschenden Sitten zu verstoßen – oder zu
demonstrieren, daß er das Privileg hat, gegen sie verstoßen
zu dürfen.
Dennoch wird sogar Buffons Diktum le style c’est
l’homme même noch nicht im individualistischen Sinne
verstanden, sondern in dem der Gattung: Stil ist männliche
Tugend = menschliche Qualität.
Die Idee eines Stils, der sich gegen die Vorschriften
behauptet, erscheint eher in Cesare Beccarias Ricerca
intorno alla natura dello stile und dann in den
organizistischen Kunsttheorien, nach denen mit Goethe
von Stil zu sprechen ist, wenn das Kunstwerk eine ihm
eigene originale, abgeschlossene, unwiederholbare Har-
monie erreicht. Noch deutlicher tritt sie in den
romantischen Auffassungen vom Genie hervor (nach
denen selbst Leopardi sagt, Stil sei jene Art von Manier
oder Fähigkeit, die man Originalität nennt). Diese
Entwicklung geht so weit, daß sich der Begriff gegen Ende
des 19. Jahrhunderts gleichsam um dreihundertsechzig
Grad gedreht hat, wenn Stil bei den Décadents und im
Dandyismus mit bizarr-absonderlicher Originalität und
Verachtung für Modelle gleichgesetzt wird; aus dieser
Vorstellung entwickeln sich dann sämtliche Ästhetiken der
klassischen Avantgarde.
Ich würde zwei Autoren nennen, für welche Stil ein
ausgeprägt semiotischer Begriff ist, nämlich Flaubert und
Proust. Für Flaubert ist Stil ein Modus, das eigene Werk
zu formen, und er ist sicherlich unwiederholbar, aber in
ihm zeigt sich auch eine Art zu denken, eine bestimmte
Sicht der Welt. Für Proust wird Stil zu einer Art
transformierter Intelligenz, die sich in der Materie
verkörpert, was so weit geht, daß für ihn Flaubert durch
die neue Art, wie er die Tempora der französischen
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Sprache gebraucht, das passé simple , das Perfekt, das
Imperfekt und das Partizip Präsens, unsere Sicht der Welt
fast so gründlich erneuert hat wie Immanuel Kant.
Aus diesen Quellen entspringt die Idee des Stils als
Formbildungsweise ( modo di formare ), die im Zentrum
der Ästhetik von Luigi Pareyson steht. Und es ist klar, daß
an diesem Punkt der Entwicklung, wenn das Kunstwerk
Form ist, die Formbildung nicht mehr allein den Wort-
schatz oder die Syntax betrifft (wie es bei der sogenannten
Stilistik der Fall sein kann), sondern jede Strategie der
Semiose, die sich sowohl an der Oberfläche wie auch in
der Tiefe längs der Nervaturen eines Textes entfaltet.
Zum Stil (als Formbildungsweise) gehören dann nicht
nur der Gebrauch der Sprache (oder der Farben oder der
Töne, je nach den semiotischen Systemen oder Uni-
versen), sondern auch die Disposition der narrativen
Strukturen, die Zeichnung der Personen, die Artikulation
von Gesichtspunkten.
Man lese die folgende Stelle von Proust, in seinen
Remarques sur le style (1920), wo er behauptet, Stendhal habe sich weniger um einen gepflegten Stil gekümmert als
Baudelaire. Proust legt hier nahe, daß Stendhal schlecht
geschrieben habe, und das ist nichts Neues, wenn man unter Stil den Wortschatz und die Syntax versteht.
Wenn er von einer Landschaft gesagt hatte: »diese bezaubernde
Gegend«, »diese hinreißende Gegend«, oder von einer seiner
Heldinnen: »diese anbetungswürdige Frau«, wünschte er keine
weitere Präzisierung. Es mangelte ihm so sehr an Stil, daß
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