Die Bücher und das Paradies
geht, wer die heftigsten Bannflüche gegen die
sogenannten formalistischstrukturalistisch-semiotischen
Theorien schleudert, als wären sie es, die schuld sind –
und jemand hat das sogar behauptet – an der Korruption
von Tangentopolis, an der Mafia, am Zusammenbruch der
Masochistischen Linken und am Aufstieg der
Triumphierenden Rechten.
Dies könnte ernstlich unangenehme Folgen haben, wenn
und insofern es diesen Anklagen gelingt, die Jugendlichen
und ihre jungen Lehrer in die Irre zu führen und sie von
Wegen abzubringen, die wir in den letzten zwanzig Jahren
glücklich eingeschlagen hatten.
Wer in Paris das Erdgeschoß der Librairie des Presses
Universitaires de France betritt, findet im zweiten Regal
rechts Dutzende und Aberdutzende von Lehrbüchern für
alle Schulstufen über die Anfertigung einer analyse de
texte . Selbst die Pioniere des Strukturalismus der sechziger Jahre waren gezwungen, ich sage nicht die russischen
Formalisten oder die Prager Schule wiederzuentdecken,
aber die Legion guter empirischer angelsächsischer Kri-
tiker und Theoretiker, die schon vor Jahrzehnten (wie
Kenneth Burke) die Strategien des Blickwinkels, der
narrativen Montage, der Aktanten oder Subjekte der
Handlung von Grund auf analysiert haben.
Für meine Generation (die erste nach Croce) waren die
literaturtheoretischen und textkritischen Schriften von
René Wellek und Austin Warren, von Dámaso Alonso
oder Leo Spitzer Offenbarungen. Wir fingen an zu
begreifen, daß Lesen nicht ein Ausflug ins Grüne ist, bei
dem man fast zufällig rechts oder links eine poetische
Blume pflückt, hier einen Hahnenfuß und dort einen
Weißdorn, versteckt im Dünger der strukturellen Füll- und
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Flickwörter, sondern daß man den Text als etwas Ganzes
nehmen muß, das auf verschiedenen Stufen von Leben
erfüllt ist. Auch unser offizielles Bildungswesen schien
das begriffen zu haben.
Warum ist man heute dabei, all das wieder zu vergessen,
warum wird in den Literaturseminaren heute gelehrt, man
brauche kein solides theoretisches Rüstzeug und keine
Lektüre auf allen Stufen, um über einen Text zu sprechen?
Das lange tagtägliche Bemühen eines so gewissenhaften
Kritikers wie Gianfranco Contini sei eher schädlich, das
einzige heute (wieder!) zu feiernde Kritikerideal sei das
eines freien Geistes, der frei auf die je und je vom Text
gebotenen Reize reagiere!
Ich persönlich sehe in dieser Tendenz einen Ausfluß
anderer Kommunikationsbereiche, eine Anpassung der
Kritik an die Rhythmen und an die Investitionsrate anderer
Aktivitäten, die sich als gewinnträchtig erwiesen haben.
Warum verkauft sich die Rezension, die dazu zwingt, das
besprochene Buch zu lesen, auf den Kulturseiten unserer
Zeitungen weniger gut als der Kommentar zu einem
Interview, das der Autor einer anderen Zeitung gegeben
hat? Wozu soll man im Fernsehen eine eigens produzierte
Inszenierung von Hamlet zeigen, wie es das viel-
verspottete Fernsehen der sechziger Jahre getan hat, wenn
es mehr Quote bringt, einen Dorftrottel und einen
Fakultätsratstrottel auf gleicher Stufe in einer Talkshow zu
präsentieren? Wozu also jahrelang einen Text studieren,
wenn man die Ekstase des Erhabenen auch kriegen kann,
indem man bloß ein paar Blätter kaut, ohne seine Nächte
und Tage damit zu verbringen, die Sublimität eines grünen
Blattes in den sublimen Manövern der Photosynthese des
Chlorophylls zu entdecken?
Nun, weil ebendies die Botschaft ist, die tagein, tagaus
von den Priestern der Post-Antiken Neuen Kritik
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verkündet wird: Wer sich über die Photosynthese durch
Chlorophyll informiert hat, wird sein ganzes weiteres
Leben lang unempfänglich für die Schönheit eines grünen
Blattes sein, wer etwas über den Blutkreislauf weiß, kann
sein Herz nicht mehr in Liebe erbeben lassen. Aber diese
Botschaft ist falsch, und das muß immer wieder laut
gesagt werden.
Was hier stattfindet, ist eine Feldschlacht zwischen
denen, die einen Text lieben, und denen, die es auf die
Schnelle haben wollen.
Aber lassen wir eine unverdächtige Autorität sprechen,
die so weise und vertrauenswürdig ist, daß wir nicht
einmal ihren richtigen Namen kennen – was ihr die
Sympathie der inzwischen außer Rand und Band
geratenen Jünger der traditionellen, unbekannten und
okkulten Weisheit sichern müßte (oder auch die jener
raffinierten Verleger, die nur den Autor eines einzigen
Buches und vielleicht nicht einmal dieses einen
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