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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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könnte dies auch ein weiterer Nebeleffekt sein. Der Text sagt keineswegs, daß Sylvie ihm wegen der alten Geschichte schmollt -allenfalls denkt das Jerard. Sowohl sie wie ihr Bruder werfen ihm vor, daß er sich »seit so langer Zeit« nicht hat sehen lassen. Wer sagt, daß damit die Zeit seit dem ersten Tanz gemeint war? Jerard hätte sehr gut in der Zwischenzeit einmal wiedergekommen sein und einen
    Abend mit Sylvies Bruder verbracht haben können. Und doch ist diese Lösung nicht recht überzeugend, denn an jenem Abend macht Jerard ganz den Eindruck, als ob er Sylvie zum ersten Mal seit dem Tanz auf der Wiese wiedersieht, erscheint sie ihm doch verwandelt und noch bezaubernder als damals.
    Also könnte Jerard nach dem zweiten Tanz (in ti) nach Chaalis gekommen sein. Aber wie soll das möglich sein, wenn dieser Tanz in Loisy, wie die meisten Kommentatoren annehmen, drei Jahre vor dem Abend nach dem Theater stattgefunden hatte und Jerard bei der Ankunft, wie gesagt, mit dem Vorwurf empfangen wurde, er habe sich so lange nicht sehen lassen? Auch hier sind wir vielleicht wieder einem Nebeleffekt aufgesessen. Der Text sagt keineswegs, daß der zweite Tanz (ti) drei Jahre vor dem Theaterabend war. Der Text sagt, daß Jerard sich beim Gedanken an Sylvie fragt (Kapitel 3, dritter Absatz): »Warum habe ich sie seit drei Jahren vergessen?« Er sagt nicht, daß drei Jahre seit dem Tanz in Loisy vergangen sind, sondern (siebter Absatz), daß Jerard seit drei Jahren dabei ist, die Erbschaft seines Onkels zu verschwenden, und man kann annehmen, daß er in diesen drei Jahren voller mondäner Vergnügungen Sylvie vergessen hat. Zwischen dem zweiten Tanz und dem Abend nach dem Theater könnten sehr viel mehr Jahre vergangen sein.
    Doch welche Hypothese man auch wählt, wie verhält sich die Episode von Chaalis zu jenem Jahr 1832, in dem Adrienne stirbt? Es wäre sicher bewegend zu denken, daß Adrienne stirbt (oder im Sterben liegt oder schon gestorben ist), als Jerard sie in Chaalis sieht (oder zu sehen meint).
    Diese scheinbar so trockenen Berechnungen sind es, die uns erklären können, warum wir Leser (samt Proust) uns gezwungen fühlen, immer wieder zurückzublättern, um zu begreifen, wo wir uns gerade befinden. Sicher könnte in diesem Fall die Verwirrung auch diejenige von Labrunie sein. Aber wenn uns die aufdringlichen Biographen nicht so penetrant immer neue Krankenblätter des Ärmsten präsentierten, würden wir beim Lesen des Textes einfach sagen, daß wir deshalb nicht wissen, wo wir uns befinden, weil Nerval nicht wollte, daß wir es wissen. Nerval ist das Gegenteil eines Krimiautors, der seinen Text so kalkuliert mit Indizien übersät, daß wir uns beim Wiederlesen fragen, warum wir die Wahrheit nicht gleich erkannt haben. Nerval führt uns in die Irre und will, daß wir die Ab- und Reihenfolge oder, wie er es ausdrückt, die Ordnung der Zeiten verlieren.
    Eben deswegen sagt uns Jerard im ersten Kapitel, er habe sich nicht um »die Ordnung der Zeiten« (l’ordre des temps) kümmern können, und am Anfang des letzten, er habe versucht, die Chimären »ohne rechte Ordnung« (sans beaucoup d’ordre) festzuhalten. Im Universum von Sylvie, in dem die Zeit, wie zu Recht gesagt worden ist, ruckweise vorangeht, funktionieren die Uhren nicht.
    Ich habe andernorts dargelegt, und zwar genau am Beispiel der im dritten Kapitel beschriebenen Standuhr, daß in einem solchen Fall, nämlich wenn in einem narrativen Text etwas ausführlich beschrieben wird, was für den Gang der Handlung keinen Belang haben dürfte, ein »symbolischer Modus« installiert wird. 10 Die Beschreibung der Standuhr im dritten Kapitel ist exemplarisch. Warum wird diese Antiquität so ausführlich beschrieben, wo sie doch nicht einmal in der Lage ist, dem
    Protagonisten zu sagen, was ihm sogar die Kuckucksuhr des Pförtners sagen kann? Weil sie ein symbolisches Konzentrat der ganzen Erzählung ist, vor allem für die darin beschworene Welt der Renaissance, die jene des Valois ist, aber auch, weil sie hier sagen soll (vielleicht mehr dem Leser als dem Erzähler), daß wir die Ordnung der Zeiten niemals wiederherstellen werden. Aufgrund einer schon hervorgehobenen Symmetrie taucht eine stehengebliebene Uhr noch einmal im zwölften Kapitel auf. Stünde sie nur dort, hätten wir es bloß mit einer hübschen Anekdote aus der Kindheit zu tun. Aber es ist die Wiederkehr eines Themas. Nerval sagt uns, daß die Zeit für ihn von Anfang an dazu bestimmt war, in

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