Die Buecher und das Paradies
argwöhnt, fürchtet, begehrt und fingiert Jerard bis zum Ende, entgegen jeder Evidenz, daß Aurelie und Adrienne ein und dieselbe Person seien, sondern manchmal glaubt er auch, daß er das, was er an ihnen begehrt, bei Sylvie finden könne. Aus nicht genannten Gründen verläßt er sie nach dem ersten Ball in Loisy, als er mit ihr sogar eine symbolische Hochzeit gefeiert hat. Als er sie dann (beim zweiten Ball) erneut aufsucht, um der unmöglichen Faszination Aurelies zu entfliehen, findet er, daß sie derjenigen ähnelt, vor der er flieht, und begreift, daß entweder Sylvie für ihn oder er für Sylvie verloren ist.
Man könnte sagen, bei jeder Überblendung, bei der eine Frauenfigur in der anderen aufgeht, wird das, was an ihr unwirklich war, wirklich; doch gerade weil es nun in greifbare Nähe rückt, ist es bereit, sich in etwas wieder anderes zu verflüchtigen.
Das seltsame Übel Jerards ist, daß er immer genau das zurückweisen muß, was er zuvor begehrt hatte, eben weil es nun das zu werden beginnt, was er bisher angeschwärmt hatte. Man sehe nur, wie Aurelie in Kapitel 13 genau das wird, was er sich unbewußt erhofft: Sie gehörte einem anderen, und dieser andere verschwindet nach Übersee; Schauspielerinnen haben kein Herz, und nun zeigt sie sich bereit zu lieben ... Doch, ach, leider kann er das, was erreichbar geworden ist, nicht mehr lieben. Gerade weil sie nun ein Herz hat, geht Aurelie mit dem davon, der sie wirklich liebt. 11
Auf geradezu neurotische Weise manifestiert sich dieses quälende Wollen und Nichtwollen in Jerards innerem Monolog am Ende von Kapitel 11. Verletzt durch Sylvies unklare Anspielung auf das Schicksal Adriennes, entdeckt Jerard, der eben noch Sylvie begehrte, daß es Sünde wäre, eine Schwester zu verführen. Gleich darauf kommt ihm (mit einer irritierenden Wollust) Aurelie in den Sinn, und er verlagert sein Begehren wieder auf sie. Am Anfang des nächsten Kapitels ist er jedoch erneut bereit, sich Sylvie zu Füßen zu werfen und ihr sein Haus und sein Ungewisses Vermögen anzubieten. Hin- und hergerissen zwischen drei Frauen, die ihn tanzend umkreisen, verliert Jerard die Fähigkeit, sie zu unterscheiden, und begehrt und verliert alle drei.
1832
Im übrigen ermuntert uns Nerval selbst zu vergessen. Und um uns dabei zu helfen (oder um uns loszuwerden) präsentiert er uns eine vergeßliche Sylvie, die sich erst ganz am Ende daran erinnert, daß Adrienne schon 1832 gestorben ist.
Dies ist der Punkt, der den Interpreten am meisten zu schaffen macht. Warum wird eine so essentielle Information erst am Ende gegeben, während wir sie, wie eine ziemlich naive Fußnote der Edition Pléiade meint, doch am Anfang erwartet hätten? Nerval vollführt hier eine Operation, die Gérard Genette nachholende Rückblende nennt: Der Erzähler tut so, als ob er etwas vergessen hätte, und trägt es mit beträchtlicher Verspätung nach. 12 Es ist nicht die einzige in der Erzählung, die andere ist die beiläufige Erwähnung des Namens der Schauspielerin, den man erst im elften Kapitel erfahrt; aber die erscheint motivierter, denn erst in diesem Moment, als er das Idyll mit Sylvie entschwinden sieht, beginnt Jerard an die Schauspielerin als eine Frau zu denken, der er sich vielleicht nähern könnte. Dagegen klingt das nachgetragene Todesdatum mindestens skandalös, zumal ihm ein Verzögerungsversuch vorausgeht, der auf den ersten Blick schwer zu rechtfertigen ist.
Denn im elften Kapitel finden wir eine der ambivalentesten Ausdrucksweisen der ganzen Erzählung: cela a mal tourné, »das hat ein trübes Ende genommen«. Für den, der die Erzählung zum wiederholten Mal liest, nimmt diese Anspielung Sylvies ein wenig die Enthüllung am Ende vorweg, aber für den, der sie zum ersten Mal liest, klingt sie wie eine Retardierung. Sylvie sagt hier noch nicht, daß es mit Adrienne ein übles Ende genommen hat, sondern nur, daß ihre Geschichte übel ausgegangen ist. Darum bin ich weder einverstanden mit Übersetzungen wie »mit ihr ist es übel ausgegangen« noch mit solchen, die sich vorsichtiger mit einem »es ist schlecht ausgegangen« begnügen und somit, da sie das doch so eindeutige cela nicht zu interpretieren wagen, die Möglichkeit offenlassen, daß Adrienne das Subjekt sein könnte. Tatsächlich sagt Sylvie soviel wie: »die
Geschichte ist übel ausgegangen«. Warum muß man diese Ambivalenz respektieren (die so weit geht, daß jemand gemeint hat, aufgrund dieser Bemerkung sei Jerard
Weitere Kostenlose Bücher