Die Buecher und das Paradies
noch überzeugter, daß Adrienne die Schauspielerin geworden sei)? Weil sie die Verzögerung bestärkt und rechtfertigt, mit der Sylvie erst in der letzten Zeile des Textes endgültig alle Illusionen Jerards zerstört.
Es ist nicht Zurückhaltung, was Sylvie so handeln läßt. Für wen wäre die Information essentiell? Für Jerard, dem die Erinnerung an Adrienne und die Möglichkeit, sie mit Aurelie zu identifizieren, zu einer Obsession geworden ist. Aber für Sylvie, der Jerard seine Obsessionen noch nicht enthüllt hat (wie er es Aurelie gegenüber tun wird), außer durch vage Anspielungen? Für die bodenständige Sylvie ist Adrienne viel weniger als ein Phantom (sie ist bloß eine der vielen Pariser Damen, die durch jene Gegend gekommen sind). Sylvie weiß nicht, daß Jerard versucht war, die Klosterfrau mit der Schauspielerin zu identifizieren, sie weiß nicht einmal genau, ob diese Schauspielerin existiert und wer sie ist. In diesem metamorphosenreichen Universum, in dem ein Bild ins andere übergeht und alle einander überlagern, ist sie eine Fremde. Daher kann man nicht sagen, daß sie die finale Enthüllung tröpfchenweise preisgibt. Das tut Nerval, nicht sie.
Sylvie redet nicht aus Bosheit so unbestimmt, sondern aus Zerstreutheit, weil sie die Sache belanglos findet. Sie trägt gerade deswegen dazu bei, den Traum Jerards zu zerstören, weil sie nichts davon weiß. Sie hat ein unbeschwertes Verhältnis zur Zeit, mit ein paar befriedigten Sehnsüchten oder zarten Erinnerungen, die ihre friedliche Gegenwart nicht in Frage stellen. Deshalb ist sie von allen drei Frauen diejenige, die am Ende die unerreichbarste bleibt. Mit Adrienne hat Jerard immerhin einen magischen Augenblick erlebt, und mit Aurelie hat er, soviel man verstehen kann, ein intimes Verhältnis gehabt, aber mit Sylvie nichts außer einem sehr keuschen Kuß - und in Othys die noch keuschere Fiktion einer Hochzeit. In dem Moment, als Sylvie endlich voll und ganz das Realitätsprinzip verkörpert (und die einzige unbezweifelbar wahre und historische Faktizität - ein Datum - der ganzen Erzählung ausspricht), ist sie definitiv verloren. Jedenfalls als Geliebte, denn für Jerard ist sie jetzt nur noch Schwester und überdies verheiratet mit seinem (Milch-)Bruder.
Somit wäre man versucht zu sagen, daß die Erzählung gerade aus diesem Grund Sylvie betitelt worden ist und nicht - wie ein früheres flammendes Werk - Aurelie. Sylvie ist die wahre verlorene und nie mehr wiedergefundene Zeit, gerade weil sie am Ende als einzige übrigbleibt.
Das würde allerdings eine sehr starke These implizieren, die ihre volle Bedeutung gerade durch eine Gegenüberstellung von Proust und Nerval gewönne: Nerval machte sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, war jedoch unfähig, sie wiederzufinden, und begnügte sich mit einer Feier der Vanitas seiner Chimäre. Das von Sylvie ausgesprochene Datum am Ende klänge dann wie der Schlag einer Totenglocke, der die Geschichte abschließt.
Damit würde sich das liebevolle Interesse erklären, das Proust Nerval entgegenbringt, fast wie ein Sohn dem Vater, der bei einem verzweifelten Unternehmen gescheitert ist (und vielleicht hat Labrunie sich deswegen umgebracht). Proust hätte sich also vorgenommen, die Niederlage des Vaters durch seinen eigenen Sieg über die Zeit zu rächen.
Aber wann im Laufe der Handlung enthüllt Sylvie Jerard, daß Adrienne schon lange gestorben ist? In der Zeit t 13 (»im folgenden Sommer«), als die Schauspieltruppe Vorstellungen in Dammartin gibt. Wie immer man rechnet, auf jeden Fall ist das lange vor jener Zeit tN, in der Jerard zu erzählen beginnt. Mithin hat Jerard, als er anfängt, sich den Abend nach dem Theaterbesuch ins Gedächtnis zu rufen, um dann in Gedanken zurückzuschweifen zu den Zeiten des Tanzes auf der Wiese und von der Erregung zu sprechen, die ihn bei dem Gedanken erfaßte, Adrienne und die Schauspielerin könnten iden-tisch sein, und von der Illusion, sie noch einmal in der Nähe des Klosters von Saint-S*** sehen zu können -, mithin hat Jerard in dieser ganzen Zeit der Handlung (und der Erzählung) schon gewußt, daß Adrienne unbezweifelbar 1832 gestorben war.
Es ist also nicht so, daß Jerard (oder mit ihm Nerval) zu erzählen aufhört, als er begreift, daß alles zu Ende ist. Im Gegenteil, gerade nachdem er begriffen hat, daß alles zu Ende ist, beginnt er zu erzählen (und zwar von einem Ich, das nicht wußte und nicht wissen konnte, daß alles längst zu Ende
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