Die Buecher und das Paradies
war).
Ist einer, der so etwas tut, ein geistig Verwirrter, der mit seiner eigenen Vergangenheit nicht mehr zurechtkommt? Im Gegenteil, er ist einer, der ausspricht, daß man sich an eine Wiederbesichtigung der Vergangenheit erst dann machen kann, wenn die Gegenwart auf Null gestellt ist, und daß nur die Erinnerung (auch wenn sie nicht sehr geordnet ist, und vielleicht gerade deswegen) uns etwas wiedergibt, wofür es sich, wenn schon nicht zu leben, so wenigstens zu sterben lohnt.
In diesem Fall hätte Proust allerdings Nerval nicht als einen schwachen und hilflosen Vater gesehen, dessen Versagen es wettzumachen galt, sondern als einen zu starken Vater, den es zu überwinden galt. Und dieser Herausforderung hätte er sein Leben gewidmet.
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Artikel im Nachrichtenmagazin L’Espresso vom 8. Januar 1998 zur Hundertfünfzigjahrfeier der Publikation des Manifests der Kommunistischen Partei.
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Als ich diesen Artikel schrieb, sprach man selbstverständlich bereits von Globalisierung, und ich habe den Ausdruck nicht zufällig benutzt. Aber heute, seit wir alle für das Problem sensibilisiert worden sind, lohnt es sich wirklich, diese Seiten wiederzulesen. Es ist beeindruckend, wie das Manifest mit einem Vorlauf von hundertfünfzig Jahren sowohl die Ära der Globalisierung als auch die von ihr entfesselten Gegenkräfte vorausgesehen hat. Als wollte es uns bedeuten, daß die Globalisierung kein zufälliges Ergebnis der kapitalistischen Expansion ist (bloß weil die Mauer gefallen und das Internet gekommen ist), sondern das von Anfang an vorbestimmte Ziel, das anzustreben die neue Klasse gar nicht vermeiden konnte, auch wenn damals der bequemste Weg zur Ausweitung der Märkte (wenn auch der blutigste) noch die Kolonisierung war. Bedenkenswert ist auch (zumal für die Globalisierungsgegner aller Farben) der Hinweis darauf, daß jede alternative Kraft, die sich dem Vormarsch der Globalisierung entgegenstellt, zu Anfang uneinig und konfus auftritt, zur bloßen Maschinenstürmerei neigt und vom Gegner zum Kampf gegen seine Feinde benutzt werden kann.
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Marcel Proust, »Gérard de Nerval« in Gegen Sainte-Beuve [dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1962, S. 51 - 55, A. d. Ü.].
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Allerdings möchte ich dem Leser raten, zuerst den Text von Sylvie zu lesen (oder wiederzulesen), bevor er hier weiterliest. Ehe man zur kritischen Analyse schreitet, sollte man unbedingt das Vergnügen einer »unschuldigen« Lektüre entdeckt oder wiederentdeckt haben. Da ich zudem häufig auf die verschiedenen Kapitel verweisen werde und wir eben von Proust gehört haben, daß man »immer wieder zurückblättern muß, um festzustellen, wo man sich befindet«, ist es unverzichtbar, die Erfahrung dieses Hin und Her selbst zu machen. [Deutsch ist der Text zur Zeit leider nur in der teuren zweisprachigen Werkausgabe erhältlich: Sylvie. Erinnerungen an das Valois, in: Gérard de Nerval, Die Töchter der Flamme, übers. von Anjuta Aigner-Dünnwald und Friedhelm Kemp, Werke Bd. 3, München, Winkler, 1989; im folgenden zitiert nach der (vergriffenen) Taschenbuchausgabe »Rowohlt Jahrhundert« Bd. 81, Reinbek, 1991, S. 115 - 154. Eine Neuausgabe ist in Vorbereitung. A. d. Ü.]
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Eine ähnliche Abbildung stand bereits in meinen HarvardVorlesungen Im Wald der Fiktionen. Diese und Abbildung 2 sind mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem zitierten Einaudi-Bändchen entnommen.
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Georges Poulet, Les métamorphoses du cercle, Paris, Plon, 1961.
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Straße nach Flandern kann man vergessen, denn Gonesse liegt auf der Höhe des Flughafens Charles de Gaulle zwischen Hochhäusern und Raffinerien. Aber hinter Louves kann man anfangen, seinen Erinnerungen nachzuhängen, und die Nebel sind noch die gleichen, auch wenn man die Landschaft nur in der Ferne von einer Autobahn aus sieht.
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Schlecht dran sind Sprachen, die kein solches Imperfekt haben und sich anstrengen müssen, um diesen Nervalschen Anfang wiederzugeben. Eine englische Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert (Sylvie: a Recollection of Valois, New York, Routledge and Sons, 1887) versucht es mit: I quitted a theater where I used to appear every night in the proscenium, eine jüngere lautet: I came out of a theater where I used to spend money every evening, und hier weiß man zwar nicht, woher diese Anspielung auf das Geldausgeben kommt, aber vielleicht soll sie deutlich machen, daß es sich um eine Gewohnheit handelt, ein Laster, etwas, das schon seit einiger Zeit andauert (Nerval,
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