Die Buecher und das Paradies
höchste Künstler« [Stephen der Held, dt. v. Klaus Reichert, S. 82]. Zerlegen, segmentieren - heute ein Grundbegriff in der Analyse von Sprachsystemen - war für jene Gelehrten so wichtig, daß (wie ich meiner Quelle entnehme 2 ) das Wort teipe, »segmentieren«, also auswählen, modellieren, automatisch die irische Sprache als berla teipide bezeichnete. Infolgedessen wurde das Auraicept in seiner Eigenschaft als der
Text, der dieses Ereignis definierte, als eine Allegorie der Welt betrachtet.
Interessanterweise ist nun eine ganz ähnliche Theorie von einem Quasi-Zeitgenossen Dantes vertreten worden, nämlich dem großen Kabbalisten Abraham Abulafia im 12. Jahrhundert. Ihm zufolge hatte Gott dem ersten Menschen nicht eine spezifische Sprache gegeben, sondern eine Art Methode, eine universale Grammatik, die zwar in der Katastrophe von Babel verlorengegangen ist, aber im Volk der Hebräer überlebt hat, welches sie so gut zu nutzen verstand, daß es mit ihr die hebräische Sprache erschuf, die vollkommenste der siebzig nachbabelschen Sprachen.
Doch das Hebräische, von dem Abulafia spricht, war kein Flickenteppich aus anderen Sprachen, sondern ein ganz neues Gebilde, erzeugt durch Kombination der zweiundzwanzig ursprünglichen Buchstaben (der elementaren Segmente) des göttlichen Alphabets.
Im Gegensatz dazu hatten die irischen Grammatiker nicht beschlossen zurückzugehen, um nach der Sprache Adams zu suchen, sondern sich lieber eine neue vollkommene Sprache zu konstruieren, eben ihr Gälisch.
Kannte Joyce diese frühmittelalterlichen Grammatiker? In seinem Werk habe ich keine Bezugnahme auf das Auraicept gefunden, aber stutzig gemacht hat mich ein Umstand, den Ellmann mitteilt, nämlich daß der junge Joyce am 11. Oktober 1901, auf einem Treffen der Student Debating Society, zu dem Vortrag von John F. Taylor gegangen war, bei dem nicht nur die Schönheit und Perfektion des Irischen gefeiert, sondern auch eine Parallele gezogen wurde zwischen dem Recht des irischen Volkes auf den Gebrauch seiner eigenen Sprache und dem Recht des Moses und der Hebräer auf den Gebrauch des Hebräischen als der Sprache der Offenbarung, entgegen dem Ägyptischen als einer aufgezwungenen Sprache. Bekanntlich ist Taylors Idee ausgiebig im Aeolus-Kapitel des Ulysses benutzt worden, das von der Parallele zwischen Hebräisch und Irisch beherrscht wird, und diese stellt eine Art sprachliches Komplement zur Parallele zwischen Bloom und Stephen dar.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Zweifel zu äußern. In Finnegans Wake gibt es (S. 356) das Wort taylorised, das Atherton als Bezugnahme auf den Neuplatoniker Thomas Taylor interpretiert. 3 Mir würde es jedoch gefallen, darin eine Anspielung auf John F. Taylor sehen zu können. Ich habe keinen Beweis dafür, aber es scheint mir interessant, daß es in einem Kontext steht (F. W., S. 353 ff.), in dem Joyce zunächst von der abnihilisation of the etym spricht, dann Ausdrücke wie vociferagitant, viceversounding und alldconfusalem benutzt und schließlich mit den Worten endet how comes every a body in our taylorised world to selve out thishis, mit einer Bezugnahme auf das primeum nobilees und das Wort notomise. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Idee, Sprachen zu erfinden, indem man die Wurzeln der Wörter anatomisiert und zerschneidet, von jenem alten Vortrag Taylors inspiriert worden ist, womöglich auch von einer indirekten Kenntnis des Auraicept. Aber da es dafür keinerlei Textbeleg gibt, kann ich meine Idee hier nur als interessante Hypothese oder einfach als ein persönliches Divertimento vortragen.
Es gibt keine Beweise für eine eventuelle Vertrautheit des jungen Joyce mit den mittelalterlich-irischen Traditionen. In seinem Vortrag Irland, Insel der Heiligen und
der Weisen, den er 1907 in Triest hielt, hat er auf dem Alter der irischen Sprache insistiert und es mit dem der phönizischen gleichgesetzt. Joyce war kein unfehlbarer Historiker, und in diesem Vortrag verwechselt er, als handle es sich um ein und dieselbe Person, Johannes Scotus Eriugena (der mit Sicherheit ein Ire des
11. Jahrhunderts war) mit Johannes Duns Scotus (der zwei Jahrhunderte später in Edinburg geboren wurde, auch wenn damals viele überzeugt waren, daß er ein Ire sei); zudem glaubte er, daß der Autor des Corpus Dionysianum, den er den Pseudo-Areopagita Dionysius nannte, der heilige Dionysius sei, also der Schutzpatron Frankreichs, Saint-Denis - während der Dionysius des Corpus in der
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