Die Buecher und das Paradies
Werk, das er sicher kannte) zur Charakterisierung der Brandungswellen Adjektive wie astriferus oder glaucicomus erfindet - und die hisperische Ästhetik liebte auch Neologismen wie pectoreus, placoreus, sonoreus, alboreus, propriferus, flammiger, gaudifluus .
Es sind die gleichen lexikalischen Erfindungen, die von Virgilius Grammaticus in seinen Epitomae und Epistolae gepriesen werden. 7 Viele Gelehrte vermuten heute, daß dieser verrückte Philologe aus Bigorre bei Toulouse in Wahrheit ein Ire war, und tatsächlich scheint alles, von seinem Stil bis zu seiner Sicht der Welt, diese Vermutung zu stützen. Virgilius lebte im siebten Jahrhundert, also wahrscheinlich rund hundert Jahre vor der Entstehung des Book of Kells. Er zitiert angebliche Passagen von Cicero und seinem Namensvetter Vergil (dem richtigen, dem Dichter), die unmöglich von diesen Autoren stammen können, aber dann entdecken oder erraten wir, daß er einem Rhetorenzirkel angehörte, dessen Mitglieder sich die Namen klassischer Autoren beigelegt hatten. Virgilius zitiert also die Erfindungen seiner Freunde. Vielleicht hat er sie erfunden, vielleicht will er sich über die anderen Rhetoren lustig machen. Beeinflußt von der keltischen, der westgotischen, der irischen und der hebräischen Kultur beschreibt er ein sprachliches Universum, das aussieht, als wäre es der Phantasie eines modernen surrealistischen Dichters entsprungen.
Es gebe zwölf verschiedene Arten von Latein, behauptet er, und in jeder von ihnen könne das Feuer anders heißen, nämlich ignis, quoquihabin, ardon, calax, spiridon, rusin, fragon, fumaton, ustrax, vitius, siluleus und aeneon (Epitomae I, 4). Eine Schlacht werde praelium genannt, weil sie auf dem Meer stattfinde (das praelum heiße, weil es dank seiner Weite die Suprematie oder das praelatum des Wunderbaren habe, Epitomae IV, 10). Die Geometrie sei eine Kunst, die alle Experimente mit Kräutern und Pflanzen erkläre, weshalb man die Ärzte auch Geometer nenne (Epitomae IV, 11). Der Redner Aemilius habe elegant verkündet: SSSSSSSSSSS PP NNNNNNNN GGGG R MM TTT D CC AAAAAAA IIII VVVVVVVV O AE EEEEEEE - was soviel bedeute wie (wenn man die Buchstaben wieder richtig zusammensetzt): »Der Weise saugt das Blut der Weisheit und muß daher richtig
Blutsauger genannt werden« (Epitomae X, 1). Die Grammatiker Galbungus und Terrentius disputierten vierzehn Tage lang pausenlos über den Vokativ von ego, und das Problem war von größter Wichtigkeit, galt es doch zu bestimmen, wie man sich selbst emphatisch anreden kann (»O ich, habe ich recht getan?« - »O egone, recte feci?«). Dies und anderes erzählt uns Virgilius - womit er uns an den jungen Joyce erinnert, der sich fragte, ob die Taufe mit Mineralwasser gültig sei.
Jeder der angeführten Texte könnte dazu benutzt werden, eine Seite des Book of Kells zu beschreiben, ebenso wie eine Seite von Finnegans Wake, denn in jedem von ihnen macht die Sprache das, was im Book of Kells die Bilder machen. Das Book of Kells mit Worten beschreiben heißt ein Stück hisperischer Literatur neu erfinden. Das Book of Kells ist ein Blühen von Flechten und Schnörkeln, von entrelacs in Form stilisierter Tiergestalten, kleiner affenartiger Figuren in einem unentwirrbaren geometrischen Laubwerk, das Seiten um Seiten bedeckt, als ginge es um die immergleichen ornamentalen Motive eines Wandteppichs, während in Wirklichkeit jede Linie und jede Dolde eine neue Erfindung darstellen. Es ist ein Wuchern wildverschlungener Geschichten, die bewußt auf jede Regel der Symmetrie verzichten, eine Symphonie zarter Farben von Rosa bis Orangegelb, von Zitronengelb bis Rotviolett. Vierfüßler, Vögel, Windhunde mit Schwanenschnäbeln, unglaubliche humanoide Gestalten, verrenkt wie Zirkusathleten, die den Kopf hinterrücks zwischen die Knie stecken und ihn so verdrehen, daß er den Anfang einer Initiale bildet, geschmeidige Wesen, biegsam wie farbige Gummibänder, fügen sich in das Flechtwerk ein, lugen hinter abstrakten Ornamenten hervor, ranken sich um die Initialen und drängen sich zwischen die Zeilen. Die Buchseite bleibt unter dem betrachtenden Blick nicht starr, es scheint, als ob sie ein eigenes Leben gewinnt, es gibt keine festen Bezugspunkte mehr, und alles vermengt sich mit allem. Das Book of Kells ist das Reich des Proteus. Es ist das Resultat einer kühlen Halluzination, die weder Mescalin noch LSD benötigt, um ihre Abgründe aufzureißen, auch weil es nicht das Delirium eines einzelnen Geistes
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