Die Buecher und das Paradies
ereignet: Was die klassische Tradition als ein »Laster« ansah, ist für die hisperische Ästhetik zu einer Tugend geworden. Der hisperische Stil gehorcht nicht mehr den Gesetzen der Syntax und der traditionellen Rhetorik, die Regeln des Rhythmus und Metrums werden verletzt, um Aufzählungen in barocker Manier zu erzielen. Lange Alliterationsketten, die der klassische Geschmack als kakophonisch verurteilt hätte, erzeugen nun eine neue Musik, und der angelsächsische Bischof Aldhelm von Malmesbury ergötzt sich an der Konstruktion von Sätzen, in denen möglichst jedes Wort mit demselben Buchstaben anfängt (Brief an König Aldfrid von Northumbrien, PL 89, 91): Primitus pantorum procerum praetorumque pio potissimum paternoque praesertim privilegio panegyricum poemataque passim prosaton sub polo promulgantes ... Der hisperische Wortschatz bereichert sich mit unglaublichen Kreuzungen aus hebräischen und hellenistischen Ausdrücken, der Text verdickt sich mit Kryptogrammen und Rätseln, die jedem Bemühen um Übersetzung hohnsprechen. Hatte die klassische Ästhetik als ihr Ideal die Klarheit, so wird das Ideal der hisperischen Ästhetik nun die Dunkelheit. Strebte der klassische Stil nach ausgewogenen Proportionen, so bevorzugt der hisperische Stil nun die Komplexität, den Überfluß an Epitheta und Paraphrasen, das Gigantische, Monströse, Unbändige, Maßlose und Wunderbare. Die Suche nach ausgefallenen Etymologien führt zu einer Zerlegung der Wörter in Atome, die ihrerseits rätselhafte Bedeutungen annehmen.
Die hisperische Ästhetik ist der Stil eines Europa, das seine »dunklen Jahrhunderte« durchmacht - jene Dark ages, in denen der alte Kontinent eine Abnahme der Bevölkerung, eine schwere Krise der Landwirtschaft, die Zerstörung der großen Städte und den Verfall der römischen Straßen und Aquädukte erleidet. Auf einem von Wäldern bedeckten Kontinent sehen auch die Mönche, die Dichter und Miniaturenmaler die Welt als einen dunklen Wald, der von Monstern bewohnt und von labyrinthischen Pfaden durchzogen wird. In diesen wirren und schwierigen Zeiten sind es die Britischen Inseln und zumal Irland, von wo aus die lateinische Kultur auf den Kontinent zurückkehrt. Doch jene irischen Mönche, die das wenige an klassischer Tradition, was sie retten konnten, für uns aufbewahren und entwickeln, bewegen sich in der Welt der Sprache und der bildlichen Phantasie wie eben durch einen dichten Wald - oder wie Sankt Brendan, als er die Meere befuhr und auf Ungeheuer und fremde Länder stieß, auf den gigantischen Fisch Ieson, an dem er anlegen ließ im Glauben, es sei eine Insel, auf die Insel der weißen Vögel (die sich als Verkörperungen der mit Lucifer gefallenen Seelen erwiesen), auf wundersame Fontänen und Bäume des Paradieses, auf eine kristallene Säule mitten im Meer und auf Judas, der an eine Klippe gefesselt von den Brandungswellen gemartert wird.
Zwischen dem siebten und neunten Jahrhundert, vielleicht in Irland, sicher jedoch auf den Britischen Inseln, entsteht jenes Buch der verschiedenartigen Monster, das viele der Bilder zu beschreiben scheint, die wir im Book of Kells wiederfinden. Der anonyme Autor gesteht dem Auftraggeber auf den ersten Seiten, er hätte, obwohl diese Lügenmärchen schon in so vielen angesehenen Büchern erzählt worden seien, nie daran gedacht, sie abermals aufzutischen, »wäre nicht der stürmische Wind deiner Nachfrage aufgekommen, um mich kopfüber, als einen verängstigten Seemann, in ein Meer von Monstern zu stürzen ... Denn zahllos sind gewiß die Arten von Seeungeheuern mit Riesenleibern gleich hohen Bergen, die mit ihren Brüsten die größten Wellen zerteilen und die Weiten der Meere fast bis zum Grunde aufwühlen, während sie zu den sanften Flußmündungen streben, und beim Schwimmen sprühen sie Gischt und Schaum mit großem Getöse ... Und während sie mit wilden Strudeln die von der großen Masse ihrer Leiber schon aufgewühlten Wasser umwälzen, nähern sie sich dem Ufer und bieten den Zuschauern ein furchterregendes Schauspiel.« 6
Der Autor fürchtet zwar, Lügenmärchen zu erzählen, aber er kann der abgründigen Schönheit dieser faszinierenden Lügen nicht widerstehen, da sie ihm erlauben, eine unendliche Geschichte auszuspinnen, so endlos und vielfältig wie ein Labyrinth. Er erzählt seine Geschichte mit der gleichen Fabulierlust, mit der die Vita S. Colum-bani das Meer rings um die Insel Hibernia beschreibt, oder mit der die Hisperica Famina (ein
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