Die Buecherfluesterin
anzurufen, aber natürlich bin ich nicht durchgekommen. Ist ein Baum aufs Haus gestürzt?«
» Was? Nein.« Ich streiche mir das Haar aus dem Gesicht. » Warum hätte das denn passieren sollen?«
» Das kommt bei Unwettern häufig vor, insbesondere bei den Bäumen rings um Rumas Haus.«
» Ist etwa schon einmal ein Baum umgefallen?«
» Nein, aber es gibt dort so viele hohe Bäume, und sie hat nie einen Gärtner kommen lassen, der überprüft, ob diese Föhren noch gesund sind.«
Ich verdrehe die Augen. » Ma, dem Haus geht es prima.«
» Dad wollte dich abholen, aber der Wind war zu stark. Also war es besser, drinnen zu bleiben.«
» Hier ist alles in Ordnung«, beteuere ich.
» Wir sollten alle nach Kalifornien ziehen. Ich habe genug von diesem Wetter.« Damit droht sie alle paar Monate, doch sie bleibt trotzdem.
» In Kalifornien haben wir auch Regen und Erdrutsche«, entgegne ich. » Und Erdbeben und Dürreperioden. Außerdem die Santa-Ana-Winde.«
» Aber nicht diese Stürme. Allerdings rufe ich nicht deshalb an. Ich habe gerade mit Tante Charu gesprochen. Sanchita ist verschwunden.« Meine Mutter klingt so erwartungsvoll, als rechne sie damit, dass ich dieses Problem noch vor Sonnenaufgang lösen werde.
» Verschwunden? Von wo? Was ist denn geschehen?«
» Sie hat Mohan verlassen. Alle sind außer sich. Mohan ist ganz verzweifelt. Hast du sie vielleicht gesehen?«, fragt Ma besorgt.
» Warum hätte ich sie sehen sollen? Ich kenne sie ja kaum.«
» Ihr seid zusammen aufgewachsen.«
Den Hörer des schnurlosen Telefons ans Ohr gepresst, laufe ich auf und ab. Mir knurrt der Magen, und ich muss dringend pinkeln. » Stimmt nicht ganz. Wir wurden einander während der vielen Partys, die ihr veranstaltet habt, einander aufgezwungen. Aber wir hatten nie viel gemeinsam.«
» Vielleicht könnt ihr euch ja wieder annähern, wenn sie zurückkommt. Da du jetzt hier bist, würde sie sich sicher gern mit dir treffen. Sie scheint einsam zu sein…«
» Sie hat Kinder, einen Mann und einen anspruchsvollen Beruf. Sie braucht mich nicht als Freundin.«
» Wir müssen sie finden.«
» Es ist früher Morgen. Vielleicht ist sie ja zur Arbeit gefahren. Hat Mohan es schon in ihrem Büro versucht? Im Krankenhaus?«
» Ihre Reisetasche ist weg. Außerdem hat sie einen Zettel hinterlassen, alles sei in Ordnung und wir sollten uns keine Sorgen machen. Aber natürlich machen wir uns Sorgen. Mohan hat alle ihre Freundinnen und in ihrem Büro angerufen. Sie ist nicht zur Arbeit erschienen. Und ans Mobiltelefon geht sie auch nicht.«
» Möglicherweise will sie ja mit niemandem reden.«
» Er macht sich große Sorgen.«
» Sie ist eine erwachsene Frau.«
» Aber es passt so gar nicht zu ihr.«
» Vielleicht wollte sie einfach einmal allein sein. Manchmal tun Menschen unerwartete Dinge, die nicht zu ihnen zu passen scheinen. Sie kriegt sich schon wieder ein.«
» Sie hat die Kinder bei Mohan gelassen.«
» Kann der sich nicht um sie kümmern?«
» Er kennt die Telefonnummer der Babysitterin nicht.«
» Er könnte ja auch selbst auf seine Kinder aufpassen«, wende ich ein, obwohl mir der Mann leidtut.
» Jasmine.«
» Ma, es geht uns nichts an. Und ihre Eltern auch nicht.«
» Sie machen sich Sorgen.«
» Sie ist erwachsen und kann selbst über ihr Leben entscheiden. Schließlich ist sie nicht entführt worden.«
Ma schweigt einen Moment. » Gib mir Bescheid, falls du von ihr hörst.«
» Ich bin sicher, dass sich Sanchita zu Hause melden wird, wenn sie so weit ist.« Verwirrt hänge ich ein. Ich stelle mir Sanchitas Kinder vor– ihre pummeligen Fingerchen, die runden Gesichter, die strahlenden Augen. Sie kann sie doch unmöglich im Stich gelassen haben. Sie hat doch alles, was man sich wünschen kann, einschließlich eines interessanten Berufs. Reicht ihr das nicht? Ist sie mit einem Liebhaber durchgebrannt? Wenn schon Sanchita in ihrem vollkommenen Leben nicht glücklich ist, welche Hoffnung besteht dann noch für uns andere?
Sicher ist sie nur beim Joggen. Sie wird wohlbehalten nach Hause kommen, und alle haben sich wegen nichts und wieder nichts geängstigt.
Doch als ich die Treppe hinaufgehe, weht eine zerknitterte Seite über den Treppenabsatz. Ein herausgerissenes oder herausgefallenes Blatt Papier. Es stammt aus einem Buch mit dem Titel Wie man alle Brücken abbricht: Wege in eine neue Identität.
Kapitel 21
I
ch lege die Buchseite auf den Tisch in der Vorhalle, mumme mich ein, schließe den
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