Die Buecherfluesterin
und braust mit quietschenden Reifen los.
Ich stehe mit einem kleinen, mir wildfremden Jungen in der Vorhalle. Was fängt man mit Kindern an? Vishnu mustert mich mit offensichtlicher Skepsis im Blick. Ich bin es nicht gewöhnt, von einem kleinen Menschen mit einem so weisen Gesichtsausdruck angestarrt zu werden.
» Also gut, mein Junge, jetzt sind wir auf uns allein gestellt«, wende ich mich an ihn. Doch bald erscheinen weitere Eltern mit ihren Kindern, bis es insgesamt sieben sind, die im Salon herumtollen. Mein Herzschlag beschleunigt sich.
» Was wollen wir denn lesen?«, flüstere ich Vishnu zu. » Ich soll eine Geschichte erzählen, stimmts? Kennst du dich da aus?«
Er nickt feierlich.
» Das habe ich mir gedacht.«
Ich gehe mit ihm in die Kinderbuchabteilung und durchsuche die gewaltige Auswahl, ohne zu wissen, wo ich anfangen soll.
» Beatrix Potter?«, frage ich.
Er nickt.
» Mr. White. E.B. White?«
Er nickt wieder. » Manchmal spielt Tante Chatterji Hasenöhrchen.« Er deutet auf eine Kiste unter dem Tisch.
» Was meinst du damit?«
» Sie verkleidet sich und hüpft als Häschen herum.«
» Hüpft herum? Ganz bestimmt nicht.«
» Sie zieht auch einen Häschenschwanz an.«
Kommt gar nicht in die Tüte.
» Und dann macht sie komische Geräusche wie ein Schwein oder ein Hund.«
Ich lache. » Ich lese nur vor, mehr nicht, okay?«
Wieder nickt er und seufzt.
Ich nehme einige Bücher mit in den Salon. Die Kinder sind unruhig, kichern, reden durcheinander und sitzen mit ihren Eltern in Reihen auf dem Teppich. Beim Anblick des Gesichtermeers bekomme ich Herzklopfen. Meine Hände werden feucht, und plötzlich habe ich Lampenfieber. Dennoch beziehe ich Posten vor dem Kamin mit dem Keramiksims.
Es wird still im Raum.
» Ich vertrete heute meine Tante.«
Die Kinder starren mich an. » Wo ist Tante Chatterji?«, erkundigt sich ein rothaariger kleiner Junge.
Ich stehe im Rampenlicht. Meine Kehle wird trocken. » Sie kommt bald zurück. Aber nicht heute. Lasst uns anfangen.
Ich schlage Pu der Bär auf und fange zu lesen an. Anfangs sind die Kinder noch still, doch als ich weiter rezitiere, beginnen sie zu tuscheln. Sie rutschen hin und her, seufzen und husten.
Ich lese schneller und lauter. Ein Junge schnalzt mit den Lippen. » Ich muss aufs Klo«, sagt ein anderer.
» Tante Chatterji soll kommen!«, ruft ein kleines Mädchen.
Das versetzt mir einen Stich ins Herz.
Vishnu beobachtet mich. Seine Lippen zittern, und er hat Tränen in den Augen. Ich könnte Sanchita erwürgen. Am liebsten würde ich Vishnu in den Arm nehmen und ihn trösten.
» Moment«, verkünde ich. » Nur eine Minute, okay? Wartet alle hier.«
Schweigen entsteht. Vishnu schnieft.
Ich eile in die Kinderbuchabteilung. Mein Herz pocht. Was soll ich tun? Ich muss etwas unternehmen, damit Vishnu nicht zu weinen anfängt. Aber was?
Kundenpräsentationen sind meine Stärke. Ich kann mich vor andere Menschen hinstellen und sie fesseln. Allerdings bete ich in diesen Situationen nur Zahlen herunter und erläutere Grafiken und Trends mit Hilfe eines Zeigestabs.
Also brauche ich Requisiten. Als ich in der Kiste herumkrame, entdecke ich einen Hahnenkamm, einen albernen Eselsschwanz, Häschenohren und einige Handpuppen. Was soll ich damit anfangen? Mir wird schon etwas einfallen.
Ich nehme ein paar Bücher aus dem Regal und schleppe die Kiste in den Salon, wo mein Publikum im Schneidersitz erwartungsvoll auf dem Teppich sitzt. Ich werde improvisieren müssen.
» Gut«, beginne ich, als ich wieder vorne stehe. » Ich versuche es noch einmal.«
Vishnu schnieft. Die anderen Jungen zappeln mit den Füßen.
Ich schlage die silberne Jubiläumsausgabe von Peter Rabbit auf, hole tief Luft und fange zu lesen an. » Es waren einmal vier kleine Häschen, die hießen Flopsy, Mopsy, Puschelchen und Peter.«
» Die Geschichte mag ich«, jubelt ein kleines Mädchen mit tanzenden blonden Locken.
Zu meiner Überraschung werde ich von einem warmen Gefühl durchströmt. » Sie wohnten mit ihrer Mutter in einer Sandbank unter der Wurzel einer riesengroßen Föhre.«
Meine Stimme hallt durch den Raum und schlägt die Kinder in ihren Bann. Die trügerisch schlichte, scheinbar harmlose Geschichte eines abenteuerlustigen Häschens enthält einen grausigen Aspekt: den bösen Menschen. Mr. McGregor, der Peter Rabbits Vater fängt und ihn tötet. Mrs. McGregor, die ihn zu einer Pastete verarbeitet. Peter entrinnt nur knapp dem tragischen Schicksal seines
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