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Die Buecherfluesterin

Die Buecherfluesterin

Titel: Die Buecherfluesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anjali Banerjee
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Laden ab und mache mich auf den Weg zum Strand. Die Morgensonne lugt durch eine Lücke in den Wolken. Je länger ich die salzige Luft einatme, desto kräftiger fühle ich mich. Wegen der plötzlichen Wärme geraten die feuchten Hausdächer ins Schwitzen. Dampf steigt auf.
    Ich bücke mich, um Muschelschalen vom Sand aufzuheben. Die Pastelltöne und das komplizierte Rillenmuster der rosafarbenen Kammmuscheln wirken tröstlich auf mich. In der Natur herrscht Ordnung, Formen, die den Verstand beruhigen. Ich habe mein Mobiltelefon vergessen und auch das Netbook nicht eingeschaltet.
    Ich mache mir Sorgen um Tante Ruma und um Sanchitas Kinder. Sie muss einfach zurückkommen. Dass ich diese Buchseite gefunden habe, war sicher nur reiner Zufall.
    Warum sollte sie verschwinden und die Menschen, die sie liebt, zurücklassen. Haben Robert und Sanchita womöglich genetische Gemeinsamkeiten, Eigenschaften, die es ihnen ermöglichen, anderen wehzutun und alle Brücken abzubrechen? Und wir, die Zurückgewiesenen und Verschmähten, müssen dann die Scherben zusammenkehren und uns aus den Resten ein neues Leben schaffen.
    Auf halber Höhe des Strandes bemerke ich einen anmutigen Reiher, der reglos auf einem Felsen steht. Während ich ihn beobachte, steigt mein Atem in zarten Dampfwolken empor, und ich erkenne plötzlich, wie wunderschön dieser Augenblick ist. Ich lebe im Hier und Jetzt und teile die Welt mit diesem Reiher.
    Bei meiner Rückkehr in den Laden sitzt Tony im Büro und tippt auf seiner Computertastatur herum. Seine Finger fliegen nur so über die Tasten. Das Haar hat er zu einer neuen Frisur aufgetürmt, die nach Wassermelonenspray riecht. » Hier, schau mal. Da ist seine Biographie: Dr. Connor Hunt senior. Bei Wikipedia steht nicht viel über ihn. Offenbar war er ein ziemlich verschlossener Mensch. Aber da ist ein Foto, auf dem er mit einigen Dorfbewohnern in Nigeria tanzt. Sieh dir das an.«
    Ich betrachte das verschwommene Schwarzweißfoto. » Mit dem komischen Kopfschmuck erkenne ich ihn kaum.« Allerdings hat er einen traumhaften Körper, nur Muskeln und breite Schultern. Ich fasse es nicht, dass ich so auf einen Mann reagiere, der schon lange tot ist.
    » Er hat mit den Eingeborenen gelebt.« Tony lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. » Über seinen Tod sind keine Einzelheiten bekannt, nur dass es in Afrika passiert ist. Seine Memoiren waren damals sehr erfolgreich, doch inzwischen sind sämtliche Auflagen vergriffen.«
    » Dann hebe ich unser Exemplar für Connor junior auf«, antworte ich. » Wenn er zurückkommt. Sicher hat er schon bemerkt, dass er es vergessen hat, und holt es gleich ab.«
    Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen. Plötzlich fühle ich mich erschöpft. Ich erzähle Tony von Sanchita und der gefundenen Buchseite.
    » Das war ein Zeichen der Geister«, entgegnet er. » Sie ist für immer fort.«
    » Das ist ja verrückt«, protestiere ich.
    » Mag sein.« Er tippt weiter und klickt ein neues Fenster an. » Oder ein Zeichen für dich. Vielleicht sollst du ja die Vergangenheit vergessen und in die Zukunft schauen.«
    » Ich habe leider ein Gedächtnis wie ein Elefant.«
    Den ganzen Vormittag ertappe ich mich schon dabei, dass ich Ausschau nach Connor junior halte, was mich ärgert. Bei Robert habe ich das nämlich auch getan. Ich habe bis spätnachts auf ihn gewartet.
    Kurz vor elf kommt Mohan mit Vishnu an der Hand in die Vorhalle. Der kleine Junge hat Augenringe, als hätte er geweint. Mohan trägt einen seidenen Anzug. Sein Haar ist zurückgekämmt. Der schwarze Mercedes steht mit laufendem Motor am Straßenrand. Zwei schemenhafte Gestalten sitzen darin. Vielleicht die Babysitterin und die kleine Durga.
    » Komm rein, Mohan!«, sage ich. » Ist Sanchita zurück?«
    Er schüttelt den Kopf und weist auf seinen Sohn. » Seine Mom macht eine kurze Reise«, verkündet er betont laut. » Sie ist bald wieder da.«
    Ich nicke wissend. » Wie kann ich dir helfen?«
    » Deine Tante hat gesagt, du würdest während ihrer Abwesenheit die Vorlesestunde übernehmen.«
    » Vorlesestunde?«
    Tony erscheint hinter mir. » Das heißt, dass du den Kindern vorliest.«
    » Vorlesen?«, wiederhole ich. » Ich kann nicht gut mit Kindern.«
    » Sie macht das schon«, sagt Tony.
    Mohans Schultern entspannen sich. » Vielen, vielen Dank. Vishnu hört so gern Geschichten. Nach der Vormittagssprechstunde hole ich ihn wieder ab.«
    Bevor ich weitere Fragen stellen kann, hastet Mohan hinaus zum Auto, springt hinein

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