Die Buecherfluesterin
doch erst seit zwei Tagen hier. Es ist mitten in der Nacht. Was ist denn los?« Tonys Tonfall ist inzwischen scharf. » Brennt es? Was ist passiert?«
» Das Haus steht noch. Aber mit mir scheint etwas ernsthaft nicht zu stimmen.«
» Brauchst du einen Krankenwagen? Dann leg auf und ruf 911 an.«
» Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört, und dann habe ich mir eingebildet, ich hätte im Salon eine Frau gesehen. Ich habe Halluzinationen.«
» Hoppla, Mädchen. Ich habe dir doch gesagt, dass du das dritte Auge hast.«
» Wächst in diesem Haus vielleicht ein giftiger Schimmelpilz, der Wahnvorstellungen auslöst?«
» Das ist kein Gift. Deine Tante spricht schon seit Jahren von den Geistern im Buchladen.«
» Davon hat sie mir gar nichts erzählt.«
» Ich dachte, du wüsstest es.«
» Ich habe es nicht ernst genommen, sondern geglaubt, sie sei eben exzentrisch. Das ist sie ja auch.«
» Und du offenbar ebenfalls. Wie kann ich dir helfen? Was kann ich für dich tun?«
» Ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen soll. Meine Familie auf gar keinen Fall. Die würde mich für verrückt erklären. Ich bin verrückt! Ich muss meine Tante erreichen…«
» Ich fasse es nicht, du hast einen Geist gesehen!«
» Nein, keinen Geist! Da war niemand. Ich habe das nur geträumt. Aber ich habe ein Buch gefunden.« Ich erzähle ihm von den Memoiren. » Sie stammen von einem gewissen Dr. Connor Hunt. Er sieht zwar ein wenig anders aus als der Connor, den ich kenne, ist ihm aber sehr ähnlich. Vielleicht ist es ja Connors Vater. Es sind aber keine Fotos von Kindern dabei…«
» Der Name kam mir gleich bekannt vor. Jetzt erinnere ich mich wieder. Dr. Hunt, ja. Er hat vor langer Zeit auf dieser Insel gelebt und ist immer wieder nach Afrika gereist. Er ist dort gestorben…«
» In Afrika? Die Memoiren wurden vor seinem Tod veröffentlicht«, antworte ich mit einem Schauder. » Woran ist er denn gestorben?«
» Keine Ahnung.«
» Komisch, dass die Memoiren einfach so auf dem Tisch lagen. Vor heute Nacht habe ich sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich hat Connor darin gelesen. Oder er hat sie liegen gelassen. Vielleicht gehört das Buch ja ihm. Führen wir es eigentlich im Laden?«
» Ich weiß nicht«, erwidert Tony. » Deine Tante kauft so viele Bücher aus Hinterlassenschaften auf, und nur ein Bruchteil des Bestands ist im Computer verzeichnet. Da haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns.
» Wir müssen anfangen, die Bücher richtig zu katalogisieren.«
» Ja, gut. Können wir nicht morgen darüber reden? Ich muss zurück in die REM -Schlafphase.«
» Tut mir leid. Ich hatte vergessen, wie spät es ist.«
» Kein Problem. Du solltest auch noch ein bisschen an der Matratze horchen. Koch dir doch einen Baldriantee. Das Zeug stinkt zwar, wirkt aber Wunder.«
Nach dem Telefonat fühle ich mich keinen Deut besser. Ich setze mich in der Teeküche in einen Sessel und fange an, die Memoiren zu lesen. Durch seine Worte erwacht Connors Vater wieder zum Leben, und ich kann seine Verzweiflung angesichts der Grenzen, auf die sein soziales Engagement in Afrika immer wieder stößt, gut verstehen. Ich rieche Staub und Tod und sehe Kinder, die Kühe hüten und auf Bananenkisten schlafen. Dr. Hunt muss ohne die einfachsten Gerätschaften auskommen, die man braucht, um Menschen von eigentlich heilbaren Krankheiten zu befreien. Ich erlebe seine Fieberschübe und die Besessenheit von seiner Arbeit ebenso mit wie seine Schwierigkeiten, die er bei der Rückkehr nach Amerika hat. Den Kulturschock. Er fühlt sich schuldig, weil ein nigerianisches Mädchen an Austrocknung gestorben ist, da es nicht genug Infusionslösung gab. Er vermisst seine Frau in Amerika. Je mehr ich lese, desto besser lerne ich ihn kennen und desto stärker … was genau ist es? Begeistert er mich? Fasziniert er mich?
Könnte ich dasselbe für Connor empfinden? Er ist nicht wie sein Vater, dieser ernste Mann, der die Welt retten wollte. Connor wirkt so locker. Verfolgt er auch so hehre Ziele? Reist er auch nach Afrika, um den Bedürftigen zu helfen?
Das Schrillen des Telefons reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Das Buch rutscht mir vom Schoß. Offenbar bin ich sitzend und im Nachthemd eingenickt. Ich schaue auf die Uhr. Sechs.
Es ist Ma. Ihre Stimme klingt angespannt und besorgt. » Entschuldige, dass ich dich so früh wecke.«
» Ich war schon auf«, erwidere ich und reibe mir die Augen. » Ist etwas passiert?«
» Ich habe versucht, dich während des Unwetters
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